„Piazza“ Falkenstein
"Capisci?", ruft die alte Frau, führt die Finger ihrer rechten Hand zusammen, bis sie sich an den Kuppen berühren - und wedelt ihrer Nachbarin zur Linken damit vor der Nase herum. Es geht ums Essen. Man ist sich nicht einig, wie der "Toast con salmone" vom Mittag hätte zubereitet werden müssen - wenn er denn delikat hätte schmecken sollen. Was er, darin ist man sich einig, nicht getan habe.
Die gut frisierte Grauhaarige, der die energische Geste gilt, verdreht die Augen, packt die wedelnde Hand, knufft der dazugehörigen Frau in die Seite. Dann lacht sie mit rauer Stimme. Die anderen Frauen auf den rot-beige gestreiften Polstermöbeln und im Rollstuhl stimmen ein.
Seit einigen Jahren kommt die erste Einwanderergeneration aus dem europäischen Süden ins Seniorenalter: Rund 134000 Migrantinnen und Migranten über 65 Jahre zählte das Schweizer Bundesamt für Statistik im August letzten Jahres, die Tendenz ist steigend. Die meisten stammen aus Italien - einige aus Spanien - und sind ab Mitte der Vierzigerjahre in die Schweiz immigriert, um hier zu arbeiten. Auch wenn viele es anders geplant hatten: Nur ein Drittel kehrt im Rentenalter wieder ins Herkunftsland zurück, die meisten bleiben - für immer. Das stellt auch Pflegeeinrichtungen vor neue Herausforderungen. Einzelne Institutionen eröffnen deshalb speziell für Migrantinnen und Migranten konzipierte Wohngruppen.
Im Basler Altenzentrum Falkenstein erkennt man die "mediterrane Abteilung" nicht nur am Temperament der Bewohnerinnen, sondern auch an der Einrichtung: schwere Möbel im Aufenthaltsraum, weiße Spitzendecken auf dunklem Eichenholz, die Glasplatte des Esstischs von griechischen Säulen getragen. Vor dem Fernseher sitzt der einzige Mann im Aufenthaltsraum: Er schaut eine Diskussionssendung auf Rai Uno, die beige Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen.
Sprachbarriere und Familiensinn
Migrantinnen und Migranten stehen Alters- und Pflegeheimen oft skeptisch gegenüber: Sie genießen in ihren Herkunftsländern einen schlechten Ruf und sind sehr teuer. Und: Nur wer von seinen Kindern abgeschoben wird, landet im Heim. Das macht es auch für die Kinder schwierig. Aber für die Vollzeitbetreuung pflegebedürftiger Eltern fehlt die Zeit.
Ein weiteres Hindernis ist die Sprache. Das hat eine Berner Umfrage unter Italienerinnen und Italienern im Rentenalter gezeigt: Zwar wünschen sie sich kein eigenes Altersheim - dafür fühlen sie sich zu gut integriert. Aber sie möchten innerhalb einer konventionellen Einrichtung in einer speziellen Abteilung leben, damit sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten können.
Viele Migrantinnen und Migranten sprechen nämlich auch nach 40 Jahren in der Schweiz noch nicht richtig Deutsch. Das hat Gründe: "So etwas wie Integrationspolitik hat es zur Zeit der ersten Einwanderungsgeneration nicht gegeben", erklärt Hildegard Hungerbühler, Vizepräsidentin des Nationalen Forums Alter und Migration: "Die Leute sind zum Arbeiten ins Land geholt worden, und ihre Arbeitszeiten waren enorm. Zeit für einen Sprachkurs blieb da nicht. Abgesehen davon, dass diesen auch niemand bezahlt hätte." Aber auch wenn jemand mit den Jahren Deutsch gelernt hat: Die Zweitsprache gehe im Alter oft wieder verloren, ganz besonders bei Demenz, so Hungerbühler.
In der mediterranen Abteilung spielt sich das Leben im Aufenthaltsraum mit der gelb getünchten Tapete ab. Nicht in den Zimmern, wie es bei den Wohngruppen von Schweizerinnen und Schweizern oft der Fall ist. Einer der elf Bewohner - sechs Frauen und fünf Männer - hat immer Besuch: Man sitzt zusammen, schwatzt. Auch die Angehörigen kennen sich untereinander. "Alles ist emotionaler. Und lauter", erzählt Marianne Quensel. Die Leiterin Betreuung und Pflege im Falkenstein erklärt zusammen mit Zentrumsleiter Michel Schmassmann, wie die in Basel
einzigartige Abteilung funktioniert: Das Personal spricht mehrheitlich Italienisch oder Spanisch, die Küche ist mediterran, das Essen hat einen viel höheren Stellenwert und die Angehörigenarbeit ist in-
tensiver. "Die Verwandten wollen mehr mitreden. Sie übernehmen auch gerne einfache Pflegeaufgaben", sagt Zentrumsleiter Schmassmann. "Die Angehörigenarbeit hat einen anderen Stellenwert."
Hängengeblieben in einer Zwischenwelt
Auch wenn es hier lebhafter zugeht: Den Bewohnerinnen und Bewohnern der mediterranen Abteilung geht es gesundheitlich schlechter als Schweizerinnen oder Schweizern im gleichen Alter. "Viele haben in körperlich belastenden Berufen gearbeitet. Vor allem die Männer sind sehr
verbraucht. Auch haben sie öfter psychische Störungen als Schweizer", weiß Quensel. Die Gründe dafür lägen in den zerrissenen Biografien dieser Menschen: Geld verdienen und wieder heimkehren, so habe ihr Plan ursprünglich geheißen. Doch dann wurde die Zeit in der Schweiz immer länger - und trotzdem wurde das Land nicht zur Heimat. Jenes Italien, das sie einst verlassen hatten, gab es irgendwann ebenfalls nicht mehr - und so wurde
auch die Heimat fremd. Zentrumsleiter Schmassmann: "Innerlich sind sie irgendwo zwischen Italien und der Schweiz hängengeblieben."
Um den Bedürfnissen von Migrantinnen und Migranten im Pflegealter gerecht zu werden, braucht es mehr, als Italienisch oder Spanisch zu sprechen. "Das Personal braucht Weiterbildungen, und das Thema gehört dringend in die Ausbildung in der Altenpflege", fordert Migrationsspezialistin Hildegard Hungerbühler. Die Zukunft liege aber trotzdem nicht in italienischen, türkischen oder albanischen Pflegeabteilungen. "In Zukunft müssen sich die Einrichtungen grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie sie mit einer immer heterogeneren Altersbevölkerung umgehen", sagt Hungerbühler. Nicht nur andere Einwanderergruppen machen diese Vielfalt aus. Auch die wachsende Zahl demenzkranker oder drogensüchtiger Senioren werde den Pflegeeinrichtungen neue Konzepte abverlangen. "In Zukunft brauchen wir Institutionen, für die Offenheit, Individualität und ein kompetenter Umgang mit Diversität Programm sind."
"Wo sind denn die Männer? Wir haben nämlich nicht nur den Signore vor dem Fernseher!", ruft eine der Frauen. Andreina Plozza, im blauen Pulli, antwortet: "Also mein Mann ist nicht mehr hier. Aber er ist mich oft besuchen gekommen. Kennengelernt habe ich ihn in der Schweiz, damals, vor vielen Jahren …" Geboren sei sie aber in Italien: im Jahr 1920 im Dorf Castione in der Provinz Sondrio in der Lombardei. Schön sei es dort gewesen, sehr schön! Dann habe ihre ältere Schwester ins Tessin geheiratet und sie selbst - gerade 14 Jahre alt - sei ihr nachgereist. "Danach habe ich bei ihr gewohnt. Bis ich eben meinen Mann kennenlernte und wir gemeinsam nach Basel zogen. Aber heute kann er mich nicht mehr besuchen kommen." Die anderen Frauen schütteln den Kopf: "Nein", sagen sie, "heute kann er nicht mehr kommen. Dein Mann ist gestorben."
Mena Kost
(Nachdruck aus der Basler Straßenzeitung "Surprise", von der Mig-Mag-Redaktion gekürzt)