Offenes Ohr für Nachbarn in Not
Eigentlich ist Jean-Baptiste Oyono* Anstreicher. Aber mit seiner Handverletzung kann er seinen Job nicht mehr machen. Jetzt quält er sich mit Hartz IV durchs Leben. Aus seiner Wohnung musste er raus, die GEZ will Geld von ihm und einen Prozess gegen seinen Ex-Vermieter droht er zu verlieren. Mit diesen Sorgen ist der 32-jährige Mann aus Kamerun heute zur Caritas Esslingen gekommen.
Hier trifft er auf Gudrun Vogt und Artur Schmid, zwei Esslinger Bürger, die ihm einfach zuhören. Ehrenamtlich. An einem sogenannten "Ort des Zuhörens". Während draußen Regenböen niederpeitschen, rutscht Jean-Baptiste Oyono auf dem Stuhl herum, gestikuliert, faltet amtliche Papiere auseinander und kramt verzweifelt in seiner Kunstledertasche nach Dokumenten, die er vergessen hat. Und ist am Ende mit seinem Latein.
Für Menschen in solchen Situationen gibt es in der Diözese Rottenburg-Stuttgart die "Orte des Zuhörens". Hier suchen Ehrenamtliche mit den Ratsuchenden nach Lösungen. Sie hören zu, haben Zeit, gehen auf den anderen ein. Kommen kann jeder, mit jedem Problem: mit Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut, psychischen Problemen, Stress mit Ämtern, Alkoholsucht, Einsamkeit, Trauer oder Beziehungsproblemen. Oder mit Selbstmordgedanken.
Gut, wenn man weiß, wie sich Not anfühlt
Um weiterhelfen zu können, haben Vogt und Schmid einen dicken Ordner mit Adressen von Beratungsstellen, Tafelläden und Selbsthilfegruppen. Und sie haben sich schon viel Fachwissen bei ihrer Arbeit angeeignet. Geld vergeben die Ehrenamtlichen grundsätzlich nicht. Weil vier Ohren besser hören als zwei, arbeiten sie meistens im Tandem. An den Esslinger "Orten des Zuhörens" arbeiten inzwischen 18 Ehrenamtliche im Alter von 24 bis 72 Jahren.
Artur Schmid, der "beim Daimler" in Untertürkheim schafft, hat sich das Gespür fürs Soziale bewahrt: "Mit meinem Job bin ich privilegiert. Vielen geht’s deutlich schlechter als uns." Wie ihn ziehen die "Orte des Zuhörens" viele Engagierte an, die "etwas Vernünftiges tun" und gegen die Not in der Nachbarschaft angehen wollen. Der 53-Jährige will schlicht helfen - "konkret, nicht auf der abstrakten Ebene".
Seine Tandem-Partnerin Gudrun Vogt weiß, wie sich Not anfühlt: Sie war selbst lange Zeit arbeitslos. Gute Menschen halfen ihr damals. Jetzt will sie etwas zurückgeben. "Aber wir kriegen nicht alle Probleme gelöst", sagt sie. Und vieles von dem Erzählten bleibt haften: "Manchmal nehme ich die Schicksale mit nach Hause."
Die Konfrontation mit blanker Not verlangt Einfühlungsvermögen, Geduld und einen festen Stand im Leben. Aber auch die Stärke, schützende Distanz aufzubringen. Deshalb werden die Ehrenamtlichen von Profis begleitet. Wird ein Gespräch zu schwierig, steht Caritas-Sozialarbeiterin Petra Junginger bereit. Auch zwischen Tür und Angel. Ohne bürokratisches Tamtam. Junginger ist stolz auf die Ehrenamtlichen, "auch deshalb, weil sie unsere Themen in die Mitte der Gesellschaft platzieren. Das ist die beste Lobbyarbeit für uns."
Jeder kann seine Stärken einbringen
Im Gespräch mit Menschen wie Jean-Baptiste Oyono ist Gudrun Vogt eher die, die zuhört. Und Artur Schmid eher der, der handelt. Diese Mischung ist gewollt. "Jeder Ehrenamtliche entscheidet selbst, wie aktiv er werden will", sagt Sozialarbeiterin Junginger. "Nur zuzuhören befriedigt viele nicht; sie wollen hören und helfen." Und selbst, wenn Vogt und Schmid nicht helfen können - zuhören tun sie auf jeden Fall. Wie dem psychisch Kranken, der die ganze Stadt Esslingen verklagen wollte. "Wenn manche eine Zeit lang schimpfen, sind sie zufrieden. Dann ist es auch gut", sagt Artur Schmid lakonisch.
30 Kilometer bis zur Kirche – aber es macht Spaß
In Ravensburg, 170 Kilometer weiter südlich, sind die "Orte des Zuhörens" in den Kirchengemeinden verankert. In der Liebfrauenkirche setzen sich Christa Wohlhaupter und ihre Kollegin zwei Stunden lang mit Menschen, die ein Gespräch suchen, in die Kirchenbank, ins Chorgestühl oder in die Seitenkapelle. Hier gibt’s weder Wartezeit noch Anmeldeverfahren. Wer kommt, der kommt. Wer und wie viele das sind, das wissen die Helfer nie. Manchmal wollen Besucher nur einen Tee trinken und sind froh, jemanden zum Reden zu haben. Andere schütten ihr Herz in der Kirchenbank aus, weil sie daheim kein Gehör finden ("Meine Familie kann meine Probleme nicht mehr hören"). Von anderen Besuchern hören die Ehrenamtlichen auch schon mal: "Sie sind die Erste, der ich das erzähle." Die Psychologin Doreen Patzelt sagt, mancher Besucher bäte nur um ein Gebet für ihn. Dies helfe ihr, eigene Probleme aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.
Für Gemeindereferentin Christine Mauch ist das Angebot in Ravensburg "ein Standbein der Pastoral": "Wir geben der Kirche ein Gesicht und zeigen, dass Kirche lebt." Viele Ehrenamtliche, die der Kirche fernstehen, hätten so zur Kirche gefunden. Junge und Alte, Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Krankenschwestern, Erzieherinnen, Hausfrauen und Rentner. Im Schnitt alle drei Wochen einmal reisen sie bis zu 30 Kilometer an. Reinhilde Kirchmaier, Sozialarbeiterin der Gesamtkirchengemeinde, suchte unter 40 Bewerbern 25 aus. Außer ihnen sitzen auch die fünf Hauptamtlichen - Gemeindereferentin, Diakone und Pfarrer - einmal im Monat für zwei Stunden in den Kirchbänken und hören zu. Pfarrer Steffen Giehrl bemerkt bei Hausbesuchen einen "wahnsinnigen Bedarf am Zuhören". Die eigene Situation sieht er nüchtern: "Mit dem klassischen kirchlichen Angebot erreichen wir immer weniger Menschen." Zuhören sei oft wichtiger als die Spende eines Sakraments oder ein professioneller Rat: "Wenn die psychisch kranke Frau etwas befreit von hier weggeht, hat alles schon einen Sinn gehabt."
Schön, wenn man mit seiner Not nicht allein ist
Alle sechs Wochen überdenken die Ehrenamtlichen in Ravensburg in der Gruppe ihr eigenes Handeln. Supervisorin Monika Braun unterstützt sie: "Es ist wichtig, die eigene Präsenz und Achtsamkeit zu überdenken. Wir haben keine Rezepte. Wir wollen die Ressourcen des Einzelnen stärken." Für viele Menschen in Not sei es ein "unendliches Geschenk", dass jemand einfach Zeit für sie habe, sagt Braun. In Rollenspielen üben die Ehrenamtlichen das richtige Helfen. Bei den "Orten des Zuhörens" in Liebfrauen oder in der Nachbargemeinde St. Jodok sind immer zwei Ehrenamtliche anwesend. Dies ist besonders wichtig in "Absturzsituationen". Wenn zum Beispiel der Partner plötzlich starb. "Da sind die Leute froh, wenn sie mal alles aussprechen können", sagt Christa Wohlhaupter. Und die Ehrenamtlichen sind froh, mit dieser Situation nicht allein zu sein.
Die Helferin Ulrike Zuchowski steht an diesem Abend in der bitterkalten St. Jodok-Kirche und lässt die Augen durchs Kirchenschiff wandern: "Man merkt schnell, ob Leute Kontakt oder Hilfe suchen." Nach Blickkontakt, unverbindlichem Gruß und etwas Small Talk kommen die Menschen, die ein offenes Ohr suchen, meist ohne Umschweife zur Sache. Und es gibt "Stammkunden". So auch heute. Eine psychisch Kranke kommt immer, die Frauen kennen sie bereits. Eva-Maria Sonntag-Buck, die heute mit Ulrike Zuchowski an den "Orten des Zuhörens" arbeitet, hört ihr in der Sakristei zu. Eine Stunde lang. Dann hat die Frau gesagt, was sie sagen wollte. Ihr tut das gut. Es gibt allerdings auch Besucher, die brauchen nicht so lang. Eva-Maria Sonntag-Buck: "Die kommen nur rein und sagen, dass sie das toll finden, was wir machen."
Hintergrund
Die "Orte des Zuhörens" entstanden als "centri d‘ascolto" Ende der 1970er Jahre in der Diözese Mailand. In Reutlingen entstand 2005 der erste "Ort des Zuhörens" in Deutschland. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart wird das Angebot partnerschaftlich von Caritas und kirchlichen Einrichtungen getragen. 2010 ließen sich 1907 Ratsuchende von den 150 Ehrenamtlichen beraten.
Info, Kontakt und Konzeption
Kim Hartmann
Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e. V.
Kompetenzzentrum Solidaritätsstiftung
Tel. 0711/2633-1141
www.caritas-rottenburg-stuttgart.de