Jeder ist anders
Sie haben keine Lobby. Menschen mit Behinderungen führen immer noch ein Leben am Rand der Gesellschaft, obwohl sie nach der UN-Behindertenrechtskonvention ebenso ein Recht auf Teilhabe haben wie jeder andere. Caritas-Fachleute der Behindertenhilfe aus Deutschland, Polen und Tschechien trafen sich am 6. und 7. November in Jauernick, um über die Zukunft der Behindertenhilfe nachzudenken.
Seit der Verabschiedung der UN-Behindertenkonvention im Jahr 2006 macht das Wort "Inklusion" die Runde, was genau mit "Einschluss", besser aber wohl mit "Zugehörigkeit" übersetzt ist. Damit werden keine Sonderrechte formuliert, sondern ist gemeint, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Chancen in der Gesellschaft haben müssen, wie nicht Behinderte. Selbstverständlich, sollte man meinen, die Realität sieht aber anders aus. Menschen, die eine Behinderung haben, werden ausgegrenzt: Sie besuchen eigene Kindergärten, Sonderschulen, arbeiten in speziellen Werkstätten und leben in besonderen Wohnformen. Die Vereinten Nationen wollen damit Schluss machen und jedem die gleichen Chancen und Möglichkeiten der Entfaltung garantieren. Aber mit der Umsetzung in den Unterzeichnerstaaten - immerhin sind es außer den USA und Somalia alle UN-Mitglieder - hapert es.
Gleiche Chancen für alle bieten
Große Schwierigkeiten werden beim Thema Bildung gesehen, weiß Matthias Frahnow, Referent für Behindertenhilfe und Psychiatrie beim Caritasverband der Diözese Görlitz. Die Bedenken und Vorbehalte bezüglich der Machbarkeit und insbesondere der Sinnhaftigkeit eines gemeinsamen Unterrichtes von behinderten und nichtbehinderten Kindern bestehen nicht nur bei Politikern. Oft sind es Schulträger und Lehrer, die fachlich nicht vorbereitet sind und sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen an der Grenze des Erträglichen sehen.
Im Förderschulsystem dagegen besteht die Angst, dass Kinder mit Behinderung im Regelsystem nicht mehr die individuelle Förderung erfahren und schlicht untergehen. Eltern wünschen sich in der Regel, dass ihr Kind "normal" aufwächst, sind aber angesichts der verwirrenden Fachdiskussion überfordert. Vor allem wollen sie nicht ihre besonders schutzbedürftigen Kinder "benutzen", um eine politisch überfällige Bildungsreform politisch durchzusetzen, auch wenn die Statistik belegt: "Wer einmal in der Förderschule ist, kommt aus dem System nicht mehr raus". Dies ist die bittere Kehrseite des durchaus hoch entwickelten und auch anerkennenswerten Integrationssystems in Deutschland, beschreibt Matthias Frahnow das Paradox. Vor allem im Bereich der Schnittstellen müssen Kindergärten, Schulen und Hochschulen künftig stärker zusammenarbeiten, um auf dem Hintergrund der Vorerfahrungen auf die Kinder zugeschnittene Bedingungen und Möglichkeiten schaffen zu können und so den Übergang möglichst nahtlos zu gestalten.
Nicht viel anders sieht es auf den Arbeitsmarkt aus, berichtete Marcus Schmidt, Referent für Behindertenhilfe beim Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen. Gleichwohl es teilweise eine gute Zusammenarbeit mit Unternehmen gebe, sind Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt. "Arbeit ist wertvoll, Lebensaufgabe und ein Recht. Sie bietet die Möglichkeit der Teilhabe und Mitgestaltung", sagt Marcus Schmidt. Zur Wertschätzung von Menschen in der Arbeitswelt gehöre aber "mehr als eine Behindertentoilette".
In Europa noch nicht angekommen
Ähnliche Probleme bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen haben auch die Nachbarländer Polen und Tschechien. Besonders bei der Finanzierung von Fördermaßnahmen zeige sich, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Europa noch nicht angekommen ist, meint Petra Brocklova, Leiterin eines Wohnheimes in Marenice (Tschechien). In ihrem Land vollziehe sich zurzeit ein "gewaltiger Transformationsprozess", der Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes und individuelles Wohnen ermöglichen soll - anders als in den großen Wohnheimen, wo die Betroffenen kaum Chancen der Lebensgestaltung hätten. "Aber das alles kostet Geld", so Petra Brocklova.
Bedürfnisse behinderter Menschen ernst nehmen
Im Landkreis Görlitz wollen die Verantwortlichen die Probleme beim Schopf packen. Das versichert zumindestens die Behindertenbeauftragte Elvira Mirle. "Im Landkreis Görlitz ist die Inklusion ein durchgängiges Leitprinzip mit strukturellen Konsequenzen", so Elvira Mirle. Die Umsetzung sei zwar schwierig, nach und nach werden die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung aber ernst genommen. So sei die Behindertenbeauftragte zum Beispiel gefragt, wenn öffentliche Baumaßnahmen realisiert werden sollen.
Die trinationale Konferenz von Caritas-Vertretern aus den Bistümern Dresden-Meißen, Görlitz, Legnica (Polen) und Litomerice (Tschechien) fand bereits zum fünften Mal statt. Die Veranstaltung wird im Rahmen des Ziel 3-Programms von der Europäischen Union gefördert.