HIV positiv: Die Angst vor der Einsamkeit
"Entschuldigung!" Dieses Wort, das nicht wirklich was erklärt, lastet seit seiner Artikulierung wie Blei auf dem Familienfrieden. "Entschuldigung hat er gesagt, aber wofür?", fragt sich Anne (61) aus Essen. Dafür, dass er die jahrelange Ehe aufs Spiel gesetzt hat? Dass er seine Frau angesteckt und krank gemacht hat? Dass er ihr viel Verzweiflung gebracht hat, die sie nie gekannt hat? Und auch dafür: "Warum redet er nicht mit mir?"
Anne, Typ Mensch von nebenan, ist eine eigentlich lebenslustige Frau, mitteilsam, kontaktfreudig, offen. Sie hat - ganz ein Mädel des Ruhrgebiets - das Herz auf dem richtigen Fleck. Ihr Leben schien in Ordnung, bis zu dem Tag vor einem Jahr, als ihr Mann die Diagnose bekam: HIV positiv! Sie ließ sich dann auch untersuchen - der Schock sitzt bis heute tief. Von heute auf morgen, wie aus heiterem Himmel bekam ihr Leben eine neue Richtung. "Ich habe viel geweint, war fertig", sagt sie und dass sie jeden Tag wieder an die Immunschwäche erinnert werde - mit täglich drei Pillen hat sie mittlerweile Werte unterhalb der Nachweisgrenze erreicht, kann ein fast normales Leben führen. Aber was heißt hier schon normal? Manchmal überkomme sie es noch, sei sie traurig, "aber so langsam bekomme ich mein Leben wieder in den Griff."
Zurückweisung
Der medizinische Fortschritt im Kampf gegen Aids, der riesig ist, ist die eine Seite. Die andere spürt Anne viel schlimmer: die tägliche Zurückweisung im Alltag, die sie beobachtet, auch wenn sie ganz unterschwellig daherkommt. Die Umarmung mit Nachbarn, bei der das Küßchen weggefallen ist und selbst der Händedruck irgendwie zwanghaft scheint. Mit Freunden kann sie über HIV/Aids kaum reden, "die machen zu", ihre Schwester sagte nur: "Ach Anne, Du doch nicht"… Auch bei ihrer an sich besten Freundin fände sie kein Verständnis, das sei zwar ne liebe, die habe aber auch nen Putzfimmel, "in ihr klinisch reines Weltbild passe ich mit HIV nicht rein." Ihre Tabletten holt sich Anne - auch so eine Vorsichtsaktion - nicht in ihrer Stamm-Apotheke, sondern in einer Filiale direkt am Krankenhaus, in das sie alle drei Monate zum Blutcheck muss: "Da kennt mich keiner!"
Ihr Mann fällt als Gesprächspartner zu diesem Thema mehr oder weniger komplett aus. Sie weiß nicht, wo und wann er sich angesteckt hat, sie kann nur vermuten. Er, der Lkw-Fahrer, habe wohl "mit Männern rumgemacht", habe auch Gay-Saunen besucht. Sie habe sich immer gewundert, wieso er Badeschlappen im Auto hatte. Jetzt, im Nachhinein, ahnt sie, warum …
Berührungsängste
Jogi (47) ist schwul und seit zehn Jahren HIV positiv. Der gelernte Bürokaufmann, der auch einige Jahre als Koch gejobbt hat, kennt die Berührungsängste und Vorurteile seiner Umwelt. Wenn er gut drauf ist, steckt er die schleichende Angst seiner Mitmenschen, die fast immer auf Nichtwissen beruht, weg. Hat er eine depressive Phase (und die hat Jogi häufig), geht ihm das "Ich-weiß-nicht-mit-ihnen-umzugehen" an die Nieren.
Etwa damals, als ihm ein Amtsdoktor bescheinigte, dass er als Koch nicht mehr arbeiten könne, die Ansteckungsgefahr sei zu groß … Dümmer geht‘s nimmer und dennoch: Als Koch konnte (und wollte) er kreativ sein, "der stupide Job im Büro bringt mich um", sagt er und lebt lieber von Hartz IV. Zu kämpfen um sein Recht - dafür habe er keine Kraft mehr, die Krankheit schlaucht, die täglichen Tabletten ("Ich packe mir immer eine Wochenration in ne Dose") sind eine Belastung.
Jetzt wartet Jogi darauf, dass er als arbeitsunfähig eingestuft wird, und er seine Rente durchbekommt, "mal sehen, was wird". Zweimal ist er mit seinem Vorstoß schon gescheitert. Ein freiwilliger Betreuer hilft ihm neuerdings im Alltagsstress mit dem deutschen Amtsschimmel, der beim Wiehern gelegentlich relationslos scheint.
Hilfe im Gespräch
Wir treffen Anne und Jogi in der Aidsberatung der Caritas in Essen, wo sie beide häufiger zu Gast sind, weil "wir hier immer ein offenes Ohr finden". Anne meint, hier habe sie endlich reden können, Hilfe im Gespräch erfahren. Sie freue sich immer schon auf die nächste "Sitzung" mit Sandra Jordan, der Caritas-Beraterin und anderen Infizierten. "Wir trinken Kaffee und reden uns unsere Sorgen von der Seele", sagt Anne: "Zuhause kann ich das ja nicht!"
Beim Thema Sexualität nehmen sie beide kein Blatt vor den Mund. Er führe eine offene Beziehung, "ich passe aber auf, was wir da machen", sagt Jogi, während Anne "dicht gemacht" hat. Anfangs habe sie "noch ein bisschen mit rumgestöhnt", aber jetzt wolle sie nicht mehr. "Wenn er doch nur mit mir reden würde, darauf warte ich."
Wie es weitergeht? "HIV positiv" ist, frühzeitig erkannt und behandelt, längst kein Todesurteil mehr und führt nur äußerst selten zu einem schweren Immundefekt, Aids genannt. Aber: Die HIV-Diagnose macht einsam - das gesellschaftliche Verständnis für Erkrankte ist hierzulande, aber auch anderswo nicht sonderlich hoch entwickelt. Was einsam macht, kann auch krank machen. Einsamkeit ist keine gute Triebfeder für eine Genesung. Und für diese Seite der HIV-Medaille gibt es keine Medizin. In der Aidsberatung der Caritas weiß man das seit 25 Jahren und hält am Hilfsangebot fest. Klienten wie Anne und Jogi wissen das zu schätzen.
Ein weltweiter Virus
Bundesweit leben knapp 80.000 Menschen mit der Diagnose HIV positiv, darunter rund 3400 Neuinfizierte. Diese Zahlen nennt das Robert-Koch-Institut. Weltweit sind nach UN-Zahlen 35,3 Millionen Menschen mit HIV infiziert, die meisten Kranken leben im südlichen und mittleren Afrika. Jährlich sterben nach wie vor über 1,5 Millionen Menschen an Aids, das aus dem Virus entstehen kann. Aber: Für den Kampf gegen HIV und Aids wird immer mehr Geld eingesetzt, weltweit sind dies derzeit bis zu knapp 20 Milliarden US-Dollar jährlich. Mit der Folge, dass Therapien und Medikamente auf der ganzen Welt billiger geworden sind. Ein kleiner Hoffnungsschimmer! (ari)
Interview: 25 Jahre Aidsberatung der Ruhrcaritas
Vor 25 Jahren startete die Caritas im Ruhrbistum als eine der ersten christlichen Organisationen in Deutschland eine Aidsberatung. Was heute für die Caritas zum "normalen" Beratungsangebot gehört, war damals, 1988, noch ein heiß und kontrovers diskutiertes Thema. Die Krankheit wurde anfangs als "Schwulenseuche" bezeichnet und damit auch von Kirchenvertretern mit vermeintlich amoralischem Lebenswandel in Verbindung gebracht. Christoph Grätz sprach mit Ingrid Hafner, der Leiterin der Aidsberatung der Caritas Essen.
Red. Warum gibt es heute überhaupt noch Aidsberatung?
Hafner: Was das Wissen zu HIV angeht, beginnen wir eigentlich immer wieder von vorne. HIV ist im öffentlichen Bewusstsein heute nicht mehr nennenswert präsent, das Wissen dazu ist oft nur sehr vage vorhanden. Es existiert nach wie vor die Vorstellung, dass HIV hauptsächlich ein Problem von schwulen Männern sei, man selbst als "normaler" Durchschnittsbürger damit nichts zu tun habe.
Was ist Ihr Auftrag als Beraterin?
Wir sind in zwei Bereichen tätig: In der Präventionsarbeit haben wir die Aufgabe, u.a. mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sexualpädagogisch zum Thema HIV und generell zu sexuell übertragbaren Krankheiten zu arbeiten. Gleichzeitig geht es hier immer auch darum, Vorurteile gegenüber Betroffenen abzubauen. Im zweiten Arbeitsbereich - Beratung und Betreuung - informieren wir persönlich, auch anonym zu allen Fragen rund um HIV. Die psychosoziale Beratung und Betreuung von Menschen mit HIV in besonders belasteten Lebenssituationen ist der wichtigste Schwerpunkt unserer Arbeit.
War es eigentlich selbstverständlich, dass sich die Ruhrcaritas 1988 entschlossen hat, eine Aidsberatungsstelle einzurichten?
Im Sinne karitativer Tradition war es eine Selbstverständlichkeit, allerdings wurde diese Sichtweise in weiten Teilen von Kirche und Caritas nicht auf die Situation von Menschen mit HIV übertragen. Die moralische Verurteilung verschiedener Kirchenvertreter gegenüber den Betroffenen hat deren gesellschaftliche Diskriminierung zweifellos verschärft. So gab es nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch innerkirchlich sehr kontroverse Positionen zum Umgang mit der Erkrankung und der Haltung gegenüber den betroffenen Menschen. Die Ruhrcaritas hat es nicht bei der Debatte belassen, sondern hat tatkräftig dazu beigetragen, dass geholfen wurde. Wir in Essen haben da ein Stück den Weg frei gemacht.