„… die Angst mit aushalten .“
Die 45-jährige Silke Kirchmann
leitet seit 18 Jahren die Hospizdienste im Bergischen Land und seit 2007 auch die ambulante Kinderhospizarbeit. Sie ist, unter anderem, Krankenschwester für Palliative Care und pädiatrische Palliative Care, Trainerin für Palliative Care und Trauerbegleiterin.
Sozialcourage: Sie betreuen lebensverkürzt erkrankte Kinder und ihre Familien, aktuell bauen Sie ein Kinderhospiz in Wuppertal auf. Was denken Sie, wenn Sie hören, dass in Belgien jetzt die aktive Sterbehilfe auch für Minderjährige zulässig ist?
Silke Kirchmann (SK): Ich empfinde das als fatale Entscheidung gegen das Leben. Aus meiner Sicht darf es nicht sein, dass Menschen die Freiheit bekommen, sich aktiv für das Sterben zu entscheiden. Für mich ist damit die Unversehrtheit des Lebens in Frage gestellt.
Sozialcourage: Was, glauben Sie, steht hinter dieser Entscheidung des belgischen Parlaments?
SK: Der Grund für die Entscheidung, aktiv zu töten, ist nicht der Schmerz. Es sind oft andere Gründe. Dahinter steht eher die Sorge, den Angehörigen zur Last zu fallen, einsam zu werden. Die Versorgungsstruktur in Belgien nicht mit der in Deutschland zu vergleichen ist. Hier gibt es ein Netz von Palliativmedizinern, hervorragend ausgebildeten Kinderkrankenschwestern, die die Familien aufsuchen und zur Verfügung stehen. Das ist in Belgien anders. Statt ein solches Gesetz zu verabschieden, hätte ich mir eine kritische Auseinandersetzung mit den Versorgungsstrukturen gewünscht.
Sozialcourage: Woran leiden die Kinder, die Sie betreuen, und wie lange begleiten Sie sie?
SK: Die Kinder leiden alle unter einer lebensverkürzenden Erkrankung. Teilweise sind die Kinder schwerstmehrfachbehindert. Manche Kinder betreuen wir wenige Monate, andere über Jahre hinweg.
Sozialcourage: Kann man durch Palliativmedizin komplett verhindern, dass Kinder körperlich leiden, also keine Schmerzen empfinden?
SK: Jein. In der Palliativmedizin spricht man von den vier Dimensionen des Schmerzes. Der Mensch empfindet nicht nur den physischen Schmerz, sondern auch einen psychischen, sozialen und spirituellen Schmerz. Sie fragen sich, ob es einen Gott gibt, was mit ihnen nach ihrem Tod passiert. Wie es mit den Eltern und Geschwistern weitergeht. Sie haben Angst. Da reicht nicht alleine eine Morphiumspritze. Die Aufgabe der Palliativmedizin und der hospizlichen Arbeit ist es, die Angst mit auszuhalten. Dabei schaffen wir das Problem nicht ab, aber sind trotzdem da.
Sozialcourage: Haben Sie schon einmal erlebt, dass Eltern für ihre Kinder, oder die Kinder selbst um aktive Sterbehilfe gebeten haben?
SK: Seit 2007 haben wir 74 Kinder und Jugendliche in den Tod begleitet, aktuell betreuen wir 44 Patienten. Und das ist noch nie vorgekommen. Alle Kinder, egal mit welchen Symptomen, neigen dazu, ihre Eltern zu schützen. Das ist manchmal bewegend mit anzusehen. Deshalb sprechen die Kinder oft eher mit Außenstehenden über den Tod oder ihre Angst, als mit den eigenen Eltern. Sie sehen die Verzweiflung ihrer Familie und wollen Leid möglichst von ihnen fern halten. Da werden manchmal die Kinder zu den Schutzbefohlenen ihrer Eltern. Deshalb denken Kinder auch nicht darüber nach. Alle Eltern haben immer noch Hoffnung. Dass das Kind stirbt, ist ein unaushaltbarer Gedanke.
Sozialcourage: Wie ist denn grundsätzlich die psychische Situation der Eltern?
SK: Der Druck auf die Eltern ist immens. Sie leiden nicht nur mit ihrem Kind und haben Angst vor dem Tod. Sie leiden auch unter dem finanziellen und sozialen Druck. Die Familien sind oft isoliert. Sie können manchmal am normalen Leben nicht teilnehmen. Da gibt es häufig nur die drei K’s, wie mir ein Vater mal in einem scherzhaften Moment sagte. "Ich kenne nur noch Krankenhaus, Krankengymnast und Krankenschwester." Außenstehende können die Situation nicht verstehen und erhöhen den Druck noch mehr.
Sozialcourage: Inwiefern?
SK: Alles, was Eltern wollen, ist die verbleibende Zeit möglichst schmerzfrei und lebendig mit ihrem Kind zu verbringen. Fragen wie, "Wollt ihr das Kind wirklich weiterhin so leiden lassen? Ihr leidet doch alle nur noch unter der Situation", "Denkt doch auch mal an die anderen Kinder", verursachen ein unvorstellbares Druckgefühl. Sie lieben doch besonders ein krankes Kind.
Sozialcourage: Wir sprechen immer von Kindern, die sich noch nicht oder nicht mehr artikulieren können - was ist denn mit einem Jugendlichen, der weiß, dass er sterben wird?
SK: Jugendliche, egal ob sie sterbenskrank sind oder nicht, suchen gerade in diesem Alter einen "Weltbezug". Sie wollen nicht sterben sondern, sich dem vollen Leben hingeben. Kinder und Jugendliche werden mit einbezogen und können immer gemeinsam mit ihren Eltern entscheiden, welche medizinischen Maßnahmen dann beispielsweise nicht mehr, oder welche noch ergriffen werden sollen. Letztendlich sind sie für uns der Maßstab und die eigentlichen "Fachleute".
Wichtig ist die fachliche Beratung über alle medizinischen und pflegerischen und begleitenden Möglichkeit.
Sozialcourage: Befürchten Sie, dass es in Deutschland eine ähnliche Entwicklung geben könnte wie in Belgien?
SK: Nein. Ich hoffe wir haben die richtigen Schlüsse aus den Euthanasie-Wirren des Nationalsozialismus gezogen. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns der Wert des menschlichen Lebens bewusst ist. Wir haben in den letzten 20 Jahren gute Fortschritte in der Hospiz und Palliativversorgung gemacht. Es ist möglich, Menschen adäquat versorgen zu können. Die Versorgungsstruktur ist in Deutschland fast flächendeckend gut. Und wir entwickeln uns weiter, um der Frage nach aktiver Sterbehilfe im Sinne der echten Nächstenliebe zu begegnen.