Schonzeit hinter Gittern
Jede Segeltuchtasche, die Silvia H. im Nähsaal abkettelt, kostet im Laden 150 Euro. Genauso viel verdient die 33-Jährige für vier Wochen Akkordarbeit – in der Frauenjustizvollzugsanstalt Vechta. Doch Silvia H. ist inzwischen mit wenig zufrieden. Mehr als Geld wiegt hinter Gittern die Verbundenheit mit der Familie. Über ihrem Bett hängen Fotos von ihren Kindern, ihrer Familie und dem Hund. Sie stammen aus einer Zeit, als ihre Welt noch in Ordnung war. Das ist lange her. Ihr Glück endete, als sie merkte, dass ihr Mann heroinabhängig war. Viele Jahre versuchte sie, ihn von der Sucht loszueisen – vergeblich. Schließlich rutschte sie selbst mit ab. Klaute, spritzte, flüchtete und wurde gefasst.
"Es klingt komisch, aber manchmal fühlt sich der Knast an wie ein Wellnessurlaub", sagt Silvia H. Vor drei Monaten war sie als psychisches und physisches Wrack in der Justizvollzugsanstalt (JVA) angekommen. Inzwischen genießt sie es, sich auf ihrer Station frei bewegen zu können, gut behandelt zu werden und dass immer jemand da ist, der zuhört.
Auf dem Flur erklingen Weihnachtslieder. Weiße Tischdecken werden ausgebreitet, der Tannenbaum geschmückt. "Weihnachten ist besonders schlimm", sagt Silvia H., die aus einer deutschen Sinti-Großfamilie stammt. Beim nächsten Fest wird sie wieder draußen sein – und alles dafür tun, ihre Kinder zurückzuholen, denn: "Bei meinen Kindern zu sein ist für mich die beste Therapie."
Ganz viele Frauen sind erst Opfer
Die stellvertretende Anstaltsleiterin Petra Huckemeyer kennt die Schicksale gut: "Die Frauen sind oft völlig runter, wenn sie zu uns kommen, und brauchen dringend eine Schonzeit. Es ist unvorstellbar, welches Leid und welche Qualen manche ausgehalten haben." Jede zweite Inhaftierte sitzt wegen illegaler Drogen und Beschaffungskriminalität. 80 Prozent von ihnen wurden sexuell missbraucht und oft schon in jungen Jahren mit Alkohol gefügig gemacht. Später betäuben sich die Betroffenen mit harten Drogen, um ihre vermeintliche Schuld zu ertragen. "Ganz viele Frauen sind erst Opfer, bevor sie zur Täterin werden."
Seit 1991 ist das Frauengefängnis selbstständig und kann sich ganz den Bedürfnissen von weiblichen Gefangenen widmen. Fast alle Frauen sind Mütter, sie leiden sehr unter der Trennung von ihren Kindern. Die meisten haben nur ein sehr geringes Selbstwertgefühl und richten ihre Aggressivität gegen sich selbst.
Rund 30 Prozent werden wiederholt straffällig
"Viele dieser Frauen sind nie geliebt worden, sie kennen keine Geborgenheit, keine Verbindlichkeit und kein Vertrauen", erzählt Seelsorgerin Josefine May. Für viele ist sie die wichtigste Vertrauensperson. May nimmt die Gefangenen an, wie sie sind, versucht, den oft zerrütteten Kontakt zu Verwandten wiederzubeleben, gibt Halt und zeigt, dass es auch in Unfreiheit eine innere Freiheit gibt.
"Wir können diesen Frauen das Leben nicht abnehmen", sagt die Vize-Anstaltsleiterin, "aber wir können ihnen helfen, es zu meistern, ohne erneut straffällig zu werden." Bei 70 Prozent der Frauen gelingt es, 30 Prozent kommen wieder. Wie Leyla N. Die scheue, unsichere 37-Jährige ist zum zweiten Mal in Haft, diesmal muss sie zwei Jahre bleiben - wegen mehrfachen Diebstahls. Die gelernte Köchin wollte ihrem verschuldeten Mann helfen und fing an zu klauen. "Das ist das Einzige, was ich gut kann", sagt Leyla, die von ihrem Vater von klein auf "mit Worten geschlagen wurde".
Wichtiger als Zigaretten: Bibel
Silvia und Leyla leben mit rund 30 Inhaftierten auf derselben Station. Zwei Frauen teilen sich eine Zelle, in der dazugehörigen Mutter-Kind-Abteilung leben eine Handvoll Kleinkinder. Wie in jedem anderen Gefängnis müssen die Frauen unter der Woche arbeiten, sonntags treffen sich viele in der angeschlossenen Klosterkirche zum Gottesdienst. "Bei den Besucherzahlen könnte mancher Pfarrer neidisch werden", sagt Josefine May. "Was glauben Sie, was zu den wichtigsten Dingen im Knast zählt?", fragt sie die Reporterin. "Zigaretten", antwortet diese, woraufhin die Pastoralreferentin lächelnd den Kopf schüttelt und entgegnet: "Rosenkranz und Bibel."
Josefine May ist zusammen mit vielen ehrenamtlichen Helfern eine Brücke zur Außenwelt. Zum Beispiel zu Leylas 17-jährigem Sohn, der bei ihren Eltern lebt und den Realschulabschluss nachmacht. Besuche hat sie ihm verboten. "Ich will nicht, dass er mich hier sieht", sagt Leyla. Wenn sie wieder raus ist, will sie mit ihm am liebsten irgendwo neu anfangen und alles hinter sich lassen.