Passgenau mit Sicherheit im Rücken
Die Diagnose "einfache Seelenstörung" führte bis in die 1960iger Jahre hinein fast immer zu einem langjährigen, nicht selten lebenslänglichen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Das war auch im St. Rochus-Hospital in Telgte Alltag. Heute heisst die Diagnose vielleicht "Schizophrenie" und die Reaktion darauf sieht ganz anders aus. Die Klinik hat sich in wenigen Jahrzehnten radikal gewandelt.
Prof. Dr. Heinrich Schulze-Mönking verdeutlichte das an einer Zahl: Gab es um 1900 bei 400 Plätzen gerade mal 120 Aufnahmen jährlich, so werden heute bei der halben Platzzahl rund 3.500 Patienten therapiert. Möglich geworden ist das durch seit den 50ziger Jahren neu entwickelte Medikamente gegen psychische Störungen und Therapien, vor allem aber durch den Aufbau passgenauer Angebote für den Einzelnen. Dafür sei die Sicherheit einer großen Einrichtung im Rücken hilfreich und notwendig, so der Chefarzt des St. Rochus Hospitals. Ergänzt werde das Hilfesystem, so Volker Hövelmann, Geschäftsführer des St. Rochus-Hospital, durch Tageskliniken wie zum Beispiel in Ahlen, durch die eine vollstationäre Aufnahme zu großen Teilen vermieden werden könne.
Ein entscheidender Schritt war die Trennung von chronisch psychisch behinderten Menschen und Akutpatienten. Gab es bis in die 80iger Jahre noch große Wohnstationen für chronisch psychisch kranke Menschen, lässt sich heute am vor kurzem bezogenen Wohnpark St. Clemens sehen, wie weit die Dezentralisierung fortgeschritten ist. Mitten in Telgte nehmen die in überschaubaren Wohneinheiten lebenden chronisch pyschisch erkrankten Bewohner am Leben der Gemeinde teil, kaufen selbst beim Bäcker ein, statt beliefert zu werden.
Weitere Wohngruppen sind über die Stadt Telgte verstreut. Angebote zur Tagesstruktur, ein Integrationsbetrieb und die Werkstatt für psychisch behinderte Menschen ergänzten das System. Ohne die Fahne der aktuellen Inklusionsdebatte hoch zu halten, könne so die Integration behinderter Menschen gelebt werden.
Der Aufwand für die Akutbehandlung habe sich insgesamt nicht reduziert, so Schulze-Mönking. Habe es vor einigen Jahrzehnten nur einen Arzt gegeben, der auf dem Gelände wohnte, so kümmerten sich heute 30 Mediziner, 18 Psychologen und viele weitere Mitarbeiter verschiedener Disziplinen um die Patienten. Als Besonderheit habe sich das St. Rochus-Hospitals dem Zeitgeist verschlossen und Dienstleistungen wie Reinigung oder Gärtnerei nicht ausgelagert. Es zeige sich, so Volker Hövelmann, dass dies für die Patienten gut sei, denn auch bei der Zimmerreinigung biete sich eine Gesprächsmöglichkeit. Zudem ergebe sich daraus eine hohe Mitarbeitermotivation, bei der sich jeder für das Ganze verantwortlich fühle. Es zeige sich, dass dieser Weg letztlich sogar kostengünstiger sei.
Bei allem Wandel bemühe man sich, den Geist der Ordensschwestern, der das Haus seit der Gründung vor 160 Jahren geprägt habe, weiter zu leben, erläuterte Dr. Karl Stricker, Leitender Psychologe des St. Rochus-Hospitals. Zwar seien nur noch zwei von ihnen in der Klinik tätig, aber weiterhin werde im Aufnahmegespräch immer nach den spirituellen Bedürfnissen gefragt und diese wenn möglich in die Therapie einbezogen.
Viel Lob und Anerkennung komme von den Patienten zurück, was wiederum die Motivation der Mitarbeiter beflügele, erklärt Schulze-Mönking. Konsequent werde deren Zufriedenheit abgefragt und kritische Anmerkungen konsequent verfolgt. 15.000 Befragungsbogen seien in den letzten Jahren ausgewertet worden.
Harald Westbeld