Eine Zeugin berichtet
Frau O.* ist das zweite Kind aus erster Ehe der Mutter und wurde nach der Geburt in ein Säuglingsheim gebracht. Die Gründe hierfür sind unbekannt. Erst eineinhalb Jahre später, die Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet, kam sie ins Elternhaus zurück.
* Name redaktionell geändert
Während noch drei weitere Geschwister kamen, wurde Frau O. mehrfach in verschiedenen Kinderheimen untergebracht. In den Zeiten zwischen den Heimaufenthalten erlitt sie zu Hause schwere Misshandlungen, Demütigungen mit Essens- und Trinkentzug. Aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und fortgesetztem Essensdiebstahl kam sie nach Beschluss eines Jugendhilfeausschusses als Elfjährige in ein Spezialkinderheim. Nach drei Jahren wurde sie wegen Überbelegung in ein anderes Spezialkinderheim verlegt. Wie alle DDR-Heimkinder hat sie die Schule mit der 8. Klasse abgeschlossen und machte dann eine Lehre in einem Jugendwerkhof, die sie im Gegensatz zu vielen anderen Heimkindern aber mit einem Facharbeiterabschluss beendete.
Wie fast alle DDR-Heimkinder leidet Frau O. an den psychischen und physischen Folgen ihrer Erlebnisse in den Heimen. Sie bezieht zurzeit eine geringe Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Frau O. nimmt seit längerer Zeit die Allgemeine soziale Beratung einer Caritas-Dienststelle in Anspruch. Hier berichtete sie über die Suche nach ihrer Jugendhilfe-Akte und ihre aktuellen Erfahrungen im Umgang mit Leistungsträgern.
Was hat den Ausschlag gegeben, sich mit Ihrer Geschichte der Unterbringung in Spezialkinderheimen auseinanderzusetzen? Wie kam es zur Suche nach Ihrer Jugendhilfe-Akte?
Ich war zum Jahreswechsel 1999/2000 wegen meiner gesundheitlichen Probleme zu einer Reha-Kur. Ein behandelnder Arzt befragte mich zu Eltern, Geschwistern, Kindheit überhaupt und nach meinen Beschwerden. Bislang hatte ich nur meinen eigenen Kindern einen kleinen Teil meiner Heimgeschichte erzählt. Als ich diesem Arzt vom Elternhaus und den Heimen erzählte, kam alles wieder hoch. Ich verließ die Klinik mit der Empfehlung zu einer längerfristigen Psychotherapie.
Welche Hilfen haben Sie gesucht? Wo und wann haben Sie Ihre Akte gefunden?
Ich habe in der Sozialberatung davon erzählt, dass ich so viele weiße Flecken in meiner Erinnerung an meine Kindheit habe und nicht weiß, warum ich ins Spezialkinderheim gekommen bin. Die Beraterin schlug vor, nach der Jugendhilfe-Akte zu suchen, wies aber darauf hin, dass schon viele solcher Akten vernichtet worden sind.
Wir haben trotzdem an verschiedenen Stellen, vom Bundestagsabgeordneten bis hin zum Landesarchiv, mit der Suche angefangen. Und wurden nach fast einem Jahr an mehreren Stellen fündig. Hier die Kopie einer Karteikarte aus dem ersten Spezialkinderheim, dort eine Karteikarte aus dem zweiten Heim und durch Vermittlung einer anderen Caritas-Mitarbeiterin letztendlich die Jugendhilfe-Akte.
Wie haben Sie die Einsicht in Ihre Jugendhilfe-Akte empfunden? Welche Schwierigkeiten hatten Sie bei der Durchsicht der Unterlagen?
Ich habe in Begleitung der Caritas-Beraterin die Akte eingesehen. Was sich mir da offenbarte, löste Kopfschmerz, Bauchschmerz, nasse Hände und Chaos im Kopf aus. Ich war froh, nicht allein zu sein. Sehr schlimm war, dass die Mitarbeiterin des Jugendamtes eine von der "alten Garde" war. Anfangs blätterte sie in dieser Akte und las irgendetwas daraus vor. Ich fühlte mich wieder so ohnmächtig wie als Kind im Heim. Erst nachdem die Caritas-Beraterin eingegriffen hatte, bekam ich die Akte selbst in die Hände. Und dann kamen die Kopien der Seiten, die ich angemerkt hatte, nicht vollständig, so dass ich fast ein Jahr später nochmals eine Akteneinsicht beantragen musste.
Wozu helfen Ihnen die Informationen, die Sie Ihrer Akte entnehmen konnten?
Ich kann meine eigenen Wurzeln finden, Teile der Fragen wer bin ich, was bin ich beantworten. Die Puzzleteile in meinem Kopf beginnen sich zu einem Ganzen zu formen. Ich bekomme die Bestätigung, dass die Erinnerungsfetzen keine Einbildung waren. Trotzdem suche ich noch weiter nach Gründen, warum nur ich ins Heim kam, denn ich habe noch vier Geschwister, die bei den Eltern aufwuchsen. War ich ein nicht gewolltes Kind?
In welcher Lage sehen Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt?
Ich habe nach langer Suche endlich eine auf Traumabehandlung spezialisierte Psychotherapeutin gefunden. Ich bearbeite in der Therapie meine Heimvergangenheit. Da spielen die Inhalte der Jugendhilfe-Akte eine wichtige Rolle. Und ich habe angefangen, über meine Erlebnisse und Erfahrungen zu schreiben. Aber ich habe oft beim Aufwachen Angstzustände. Wegen meiner gesundheitlichen Situation kann ich nicht arbeiten, beziehe deswegen zurzeit eine Erwerbsminderungsrente.
Mit welchen Schwierigkeiten sehen Sie sich konfrontiert, wenn es um die Aufarbeitung Ihrer Heimgeschichte geht?
Die Annahme und das Verständnis der eigenen Geschichte sind sehr schwierig. Ich habe oft Schuldgefühle in dem Sinne, dass ich denke, vielleicht bist du zu Recht ins Heim gekommen. Dann denke ich auch, gab es keine anderen Möglichkeiten. Wenn ich die "Entwicklungsberichte" aus der Heimakte lese, lese ich Einschätzungen über mich, die ich nicht verstehen kann, die nur Kopfschütteln auslösen.
Was mich oft deprimiert ist, dass ich so wenig verständnisvolle Ansprechpartner bei Ärzten, Anwälten oder Mitarbeitern der Krankenkasse habe. Immer heißt es für mich, ich muss mich "bis aufs Hemd ausziehen". Die Krankenkasse bewilligte zwar die Therapie, aber die Fahrkosten musste ich mir mithilfe eines Anwalts einklagen. Und an meinem Wohnort gab es keine entsprechende Therapeutin. Wenn die 25 Stunden zu Ende sind und eine Verlängerung der Therapie genehmigt wird, muss ich mich wieder wegen der Fahrkostenübernahme herumschlagen. Von meiner kleinen Rente und der ergänzenden Sozialhilfe kann ich das nicht bezahlen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Mitarbeiterin einer Caritas-Dienststelle