Beziehung aufbauen - gegen Sucht
Es klingt wie ein Klischee, doch für manche Menschen fängt genauso ihr Leben an. Die Mutter ist selbst gerade 18 Jahre alt, als sie Andreas B. (heute 37 Jahre, Name geändert) zur Welt bringt. Sie leben zunächst bei den Großeltern. Bis zum 4. Lebensjahr kümmert sich aber eigentlich die Tante um den Kleinen. Dann ziehen Mutter und Sohn mit dem trinkenden Vater zusammen. Häusliche Gewalt ist an der Tagesordnung. Jeden Abend, wenn der Vater von der Arbeit - eigentlich aus der Kneipe - kommt, versteckt sich sein Sohn unter dem Bett. Und dann folgt immer das gleiche Martyrium: Schreie, Streit und Weinen. Über zwei Jahre dauert für Andreas B. dieser tägliche Albtraum. Als irgendwann die Mutter dem betrunkenen Familienvater die Tür nicht mehr öffnet, wirft dieser mit Pflastersteinen die Fenster ein, trifft fast sein Kind und zerstört schließlich die Tür. Da greift Andreas, zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt, zum Telefonhörer und ruft die Großeltern zu Hilfe. Der Opa, von Beruf Polizist, holt Andreas zu sich.
"Es ist immer wieder paradox, dass auch Kinder, die solche Erfahrungen gemacht haben, von ihre Eltern geschlagen oder vernachlässigt wurden, Vater und Mutter dennoch lieben. Diese Ursehnsucht nach Liebe der eigenen Eltern bleibt bestehen, als Defizit ein Leben lang", erzählt Andrea Weinrich, Psychotherapeutin in der Integrativen Suchtberatungsstelle der Caritas in Berlin-Lichterfelde. Auch Andreas B. nimmt für sein Leben viel Schmerz, Angst und ein riesiges ungestilltes Bedürfnis nach Zuneigung mit. Er sucht immer weiter die Nähe zu seinen Eltern. Mit acht Jahren wird der Kontakt zur Mutter wieder häufiger, er bleibt über das Wochenende bei ihr. "Doch wirklich gekümmert hat sie sich auch in dieser Zeit nicht um mich", erinnert sich Andreas. Selbst auf den Vater geht er immer wieder zu. "Manchmal traf ich ihn in der Kneipe, fragte ihn, ob er mit Fußball spielen kommt. Hier haste Geld, kauf dir´n Eis, ne Cola, war dann seine Reaktion. Irgendwann spielte sich auch bei mir ein, bei allen einfach nur Geld abzugreifen", erzählt er.
Bis vierzehn nahm er sein Leben so als normal wahr, ganz unreflektiert. "Dann fing ich an, alles zu hinterfragen." Er erkannte die Intrigen im Hintergrund, zwischen Großeltern und Mutter. Alles durchzog Risse. Wohin mit seinen aufgewühlten Gefühlen? "Mit 15, 16 war es der Fußball, der mir half", erinnert sich Andreas heute. Sein Trainer wird ein guter Freund und später, bei seiner Taufe, sein Patenonkel. "Trotzdem fing auch ich mit 15 Jahren an zu Trinken", so Andreas.
Die Logik der Kinder aus solchen Familienverhältnissen sei nachvollziehbar, so Weinrich. "Es kann doch nicht sein, dass mich meine Eltern nicht lieben. Und wenn sie das nicht tun, dann muss ich etwas falsch gemacht haben. Ich muss nur das Richtige tun." In Folge dessen zögen sie alle Schuld auf sich und nähmen das Problem als persönliches Scheitern wahr, erklärt sie. "Sucht ist ein Beziehungsproblem." Kinder würden so - ihrem Alter nicht gemäß - Verantwortung für das Verhalten ihrer Eltern übernehmen, würden tagtäglich schauen, dass nichts Schlimmeres passiert. "Als Gefühl bleibt eine ungeheure Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst zurück." Diese unlösbaren Konflikte und unbefriedigte Sehnsucht nach Liebe habe Folgen etwa bei der Ausbildung der eigenen Identität. Immer schaue der Blick auf die Anderen, ob diesen geholfen werden könne oder müsse. "In so einer Situation, unter solchem Druck hat Alkohol eine unendlich entspannende Wirkung. Gleichzeitig wird und wurde familiär keine Alternative vorgelebt. Der Alkoholmissbrauch beginnt, und schon stecken die Kinder in exakt den gleichen Verhaltensmustern wie ihre Eltern", sagt Weinrich. Im Durchschnitt ziehe sich ein solches Suchtproblem über drei Generationen, bis endlich diese Kreisläufe dauerhaft durchbrochen seien.
"Irgendwann, ich war 18, lag mein Vater im Sterben, hatte Lungenkrebs", erzählt Andreas weiter. Lange habe er überlegt, ob er seiner Bitte folgen sollte, ihn am Sterbebett zu besuchen. "Ich habe es schließlich abgelehnt." Der Schmerz sei zu groß gewesen. Heute bereue er diesen Schritt manchmal, mache sich Selbstvorwürfe. Auch das Erbe schlug er aus. Er wollte von seinem Vater nichts mehr wissen, nichts haben. Schließlich baute sich Andreas sein eigenes Leben auf, zwischen Verarbeiten und Vergessen. "Irgendwie war ich immer auf der Suche nach Harmonie. Das waren schwere Jahre." Eine Lehre als Sozialversicherungsfachangestellter bei der BfA brach er ab. Weitere Ausbildungsversuche folgten. Andreas gründete selbst eine Familie. "2003 bekamen wir ein gemeinsames Kind." Aber die Beziehung verlief nicht glücklich. Zwischen Feierabendbier und Partybesäufnis kam es zu immer mehr Konflikten - vor allem wegen dem Alkohol. "Als unser Sohn fünf war, rief dieser: "Hört endlich auf, euch zu streiten", erinnert sich Andreas noch deutlich. Das sei wie ein Signal an sie beide gewesen. "Wir müssen was tun. Wir trennten uns räumlich, und meine Partnerin gab mir ein drei Viertel Jahr Zeit, den Suff aufzuarbeiten." Doch das habe so einfach nicht geklappt. 2008 trennten sie sich endgültig. Schließlich riet ein Internist Ende 2010 bei einer Routineuntersuchung anhand der auffälligen Blutwerte Andreas B. zu einer Entziehungstherapie und gab ihm die Adresse des Caritas-Beratungszentrums.
Was kann man tun, nach so vielen schmerzhaften Erfahrungen. Die Hilfe der Caritas setzt hier zunächst mit einer individuellen Einzelberatung an. Wo steht der oder die Betroffene. Was braucht er mit seinen Stärken und Schwächen für Unterstützung, um die Abstinenz zu sichern. Dann folgt eine Vermittlung in die verschiedenen Hilfsangebote, in Einzel- oder Gruppengespräche, in das betreute Einzelwohnen, die therapeutische Wohngemeinschaft, die ambulante Entwöhnungstherapie oder eine Psychotherapie, wie im Fall von Andreas B.. Bräuchten die Betroffenen eine größere Distanz, dann sei eine stationäre Entwöhnung sinnvoller. "Wichtig ist in jedem Fall, im weiteren Verlauf das Beziehungsumfeld zu ändern. Weg von den alten Saufkumpanen", so Weinrich. Der Wechsel des kulturellen Hintergrunds, in dem Trinken so normal und alternativlos war, sei ein entscheidender Punkt. So spielten etwa Freizeitangebote eine wichtige Rolle, Aktivität, Sport, Kochen, Feiern oder der Besuch von Veranstaltungen. "Letztlich geht es um die Erfahrung, Spaß und Entspannung zu haben ohne Alkohol", erzählt Weinrich.
Das alles gelingt nicht von heute auf morgen. In der Regel anderthalb Jahre dauere etwa die Betreuung im Rahmen einer Psychotherapie, die im Anschluss dann in einer Selbsthilfegruppe münden könne. Dabei baue sich notwendigerweise eine sehr nahe, persönliche Beziehung zu den Betreuten auf. "Die Beziehung, das Vertrauen in diese ist die Basis der gemeinsamen Arbeit." Es gehe schließlich um die Aufarbeitung tief sitzender Verletzungen, von Schuldgefühlen, auch eigenen Fehlern. Seit gut zehn Jahren besteht das Angebot der Ambulanten Reha in der Königsberger Straße, seit dieser Zeit arbeitet auch Weinrich in der Suchtkrankenhilfe. "Merkbar ist, dass seitdem vor allem die Erstkonsumenten immer jünger geworden sind." Nicht stoffgebundene Abhängigkeiten vom PC oder Internet spielten eine immer größere Rolle. Vor allem aber chemische Drogen seien auf dem Vormarsch.
Seit etwa einem halben Jahr hat die Mutter seines Kindes eine neue Beziehung. Das sei nicht leicht auszuhalten, sagt Andreas. "Aber immerhin, drei Tage die Woche ist jetzt mein Sohn bei mir." Er ist mittlerweile acht Jahre alt. Andreas versucht möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen, Fußball zu spielen, Ausflüge zu machen. Nicht immer hat es mit der Abstinenz geklappt. Aber er habe in der Therapie gelernt, das Suchtproblem nicht länger zu verdrängen, seinen Blick für sein Verhalten zu öffnen und ehrlicher mit sich selbst zu sein. "Letztlich will ich mein eigenes Kind nicht so enttäuschen."