Erwachsenwerden im Zeitraffer
Die Teenager sitzen im Kinderzimmer. Ein dicker Plüschteppich auf dem Holzboden, daneben Sitzsäcke. Brettspiele und Handpuppen im Regal. "Ich hatte Angst, dass Mama bald stirbt und ich ganz alleine bin", sagt die 16-jährige Lena. Als die Angst ihr Leben noch beherrschte, war Lena zwölf Jahre alt. Damals begleitete sie bei jedem Nachhauseweg von der Schule ein mulmiges Gefühl: Hat Mama wieder getrunken? Würde die Mutter den ganzen Tag mit dem Weinglas vor dem Computer sitzen? "Manchmal hat sie auf den Boden gekotzt", sagt Lena.
Im Kinderzimmer im Dachgeschoss des alten Pfarrhauses in Lengsdorf fällt es Lena leicht, von damals zu erzählen. Heute hat die Mutter ihre Alkoholsucht überwunden, lebt wieder mit der Tochter zusammen. Seit drei Jahren besucht Lena, die wie alle Jugendlichen in dieser Geschichte eigentlich anders heißt, die Gruppe "Starke Pänz". Hier finden Kinder und Jugendliche mit suchtkranken Eltern Hilfe.
Das Kinderzimmer ist für die Jugendlichen ein Freiraum. Zwischen Puppen und Teddybären können sie über Probleme und Erfahrungen sprechen, die von der Lebenswirklichkeit ihrer Freunde und Klassenkameraden oft weit entfernt sind. "Hier treffen die Jugendlichen meist zum ersten Mal Altersgenossen in einer ähnlichen Situation", sagt Sozialarbeiterin Alexandra Seifert-Rüth, die die Gruppe leitet.
Der 14-jährige Till hat erst hier "so richtig verstanden, was mit den Eltern eigentlich los ist." Till rückt seine Baseballkappe quer über die Stirn zurecht. "Meine Mutter hat mich, als ich noch ein Kleinkind war, immer ohne Essen und Trinken in mein Zimmer eingesperrt", sagt er und verzieht dabei keine Miene. "Dann ist sie weggegangen. In Bars und so." Till wohnt seit acht Jahren bei Pflegeeltern. Aber seine Familiengeschichte begleitet ihn, ob er will oder nicht. "Ich muss wissen, warum sie das getan haben", sagt er.
Seifert-Rüth erklärt, wie Alkohol oder Drogen die Eltern krank gemacht haben. Sie erklärt den Kindern die typischen Phasen einer Sucht. Und sie lässt sie spüren, wie es ihren Eltern ergeht oder ergangen ist. Dann wird die Sucht zu einem Holzklotz, den die Kinder unter den Fuß geschnallt bekommen, sodass sie nur noch mit Krücke laufen können. "Diese Krücke sind für die Eltern Alkohol oder Drogen", erklärt Seifert-Rüth.
"Die Jugendlichen gehen mit ihren Problemen sehr unterschiedlich um", sagt die Sozialarbeiterin. "Das liegt zum einen daran, wie weit sie die Abhängigkeit ihrer Eltern bereits verarbeitet haben, zum anderen an ihrer Persönlichkeit." Wie auch ihre Altersgenossen geben sich die "Starken Pänz" ruhig oder lebhaft, aufgeschlossen oder zurückgezogen.
Ganz unterschiedlich ist auch ihre eigene Einstellung zu den Suchtmitteln, die ihre Eltern krank gemacht haben. Lena würde "nie einen Tropfen anrühren". Ihre Sitznachbarin Esther fordert lautstark "Freibier für alle". "Kinder von Suchtkranken neigen zu extremen Einstellungen zu Alkohol und Drogen", sagt Seifert-Rüth. Sie lehnten den Rausch entweder total ab oder probierten alles aus. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sie stärker suchtgefährdet sind als ihre Altersgenossen. Diese Entwicklung beginnt oft lange vor der Pubertät.
In Lengsdorf treffen sich neben den Teenagern auch Kindergartenkinder und Sechs- bis Zwölfjährige mit suchtkranken Eltern. Die Nachmittage beginnen immer mit einem gemeinsamen Essen. Dabei wandert der "Redestein" von Hand zu Hand. Jedes Kind berichtet von seinen Erlebnissen der vergangenen Woche nach dem Motto "große Freude, kleiner Ärger". Dabei geht es oft um ganz alltägliche Probleme wie die Fünf in Mathe oder das verlorene Handy. "Hier hat jeder den Raum, seine Themen und Probleme in die Gruppe einzubringen", sagt Seifert-Rüth.
Während die Jugendlichen zum Teil alleine den Weg zu "Starke Pänz"gefunden haben, vermittelt den Kleinen oft das Jugendamt die Hilfe. "Bei uns sitzt im Wartezimmer der Sozialhilfeempfänger neben dem Manager", sagt die Gruppenleiterin. Die Aufhebung sozialer Grenzen stärke das Gefühl der Kinder, mit ihrer schwierigen Familiengeschichte nicht allein zu sein.
"Auch suchtkranke Eltern lieben ihre Kinder", sagt Seifert-Rüth. "Viele sind sehr bemüht, ihnen zu helfen, auch wenn es nicht immer funktioniert." Manche Fälle bringen die Betreuer an ihre Grenzen. "Es ist eine schwere Entscheidung, ob man vor allem kleine Kinder aus der Familie herausnehmen muss," sagt Seifert-Rüth.
Dazu soll es möglichst nicht kommen. "Hier in Bonn arbeiten Suchthilfe, Jugendamt und Sozialamt außergewöhnlich eng zusammen", sagt Achim Schaefer, Bereichsleiter der ambulanten Suchthilfe von Diakonie und Caritas. "Wir versuchen die Familien zu Hause so zu unterstützen, dass ein Zusammenleben möglich ist."
Es ist vor allem die Unberechenbarkeit des Lebens mit suchtkranken Eltern, unter der die Kinder leiden. "Sie haben meist ein geringes Selbstwertgefühl", sagt Seifert-Rüth. Deshalb gehe es in den Gruppenstunden oft um die Frage: "Wer bin ich?" Die Sozialarbeiterin erzählt von Familien, die durch ganz Deutschland gezogen sind. "Wer clean wird, muss sein altes Leben hinter sich lassen", sagt sie. Die Abhängigkeit von Vater oder Mutter verstrickte die Kinder in ein Netz von Tabuthemen. "Oft wissen nicht einmal die engen Freunde von der Sucht", sagt Schaefer. Die Kinder stünden gleich mehrfach unter "enormem Druck". Sie müssten die familiäre Situation nach außen verheimlichen und fühlten sich gleichzeitig für ihre kranken Eltern verantwortlich.
Diesen Zwiespalt kennt auch Lena. "Ich bin schneller erwachsen geworden als andere", sagt die 16-Jährige. Lena sagt, sie lästere nie über andere. Wenn die Klassenkameradinnen sich über Schminke und Mode unterhalten, ist sie schnell gelangweilt. "Ich bin stolz auf meine Mama, weil sie es geschafft hat, vom Alkohol wegzukommen", sagt sie. Dabei habe sie auch die Elternarbeit der Gruppe unterstützt. Aber die Angst vor dem Rückfall, die "ist immer da". Während andere Mädchen in ihrem Alter schon von der ersten eigenen Wohnung träumen, kann sich Lena nicht vorstellen, auszuziehen. "Die Mama hat ja außer mir niemanden mehr."
Aber Lena plant auch ihre eigene Zukunft. Sie möchte Sozialarbeiterin werden. "Es hilft Jugendlichen später auf jeden Fall, wenn sie jemand berät, der ihre Situation selber erlebt hat."
Delphine Sachsenröder
Mit freundlicher Genehmigung der Rhein-Ahr-Zeitung