"Grenzen erleben"
Caritas-Mitarbeiterin Silke Felsmann zieht mir eine schwere Bleischürze an und setzt mir Kopfhörer auf. Ich setze mich auf einen Stuhl und starre in einen dunklen engen Gang mit trostlosem Inventar an dessen Ende. Über die Kopfhörer trichtert mir eine Stimme immer wieder ein: Ich bin traurig und müde, es ist alles so mühsam, jeder Schritt fällt mir schwer. Alles ist so sinnlos. Ich spüre, dass sich dies auf meine Stimmung niederschlägt. Ich sitze im „Depressionsraum“ der Ausstellung „Grenzen erleben“ des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Caritas-Zentrums Traunstein, welche die Beratungsstelle für psychische Gesundheit der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt anlässlich ihres 30-jährigen Jubiläums nach Ingolstadt geholt hat. Ihr Anliegen ist es, „Normalbürger“ wie mich psychische Erkrankungen ansatzweise nachempfinden zu lassen.
Nach einer Weile des Hörens trostloser Stimmen werde ich aufgefordert, durch den langen dunklen Gang zu gehen, mich an einen Tisch zu setzen und auf einem Blatt ein schönes Erlebnis in letzter Zeit zu notieren. Mir fällt spontan ein Besuch mit meiner Tochter in einem Tierpark im Urlaub ein. Als ich anschließend die Ausstellung verlasse, wirke ich wieder locker und entspannt. Ich erzähle Silke Felsmann, die Besucher des Depressionsraumes für Nachgespräche zur Verfügung steht: „ Die Aufforderung, ein schönes Erlebnis zu notieren, ist für mich ein positiver Wendepunkt gewesen.“ Und ich frage sie: „Wäre es nicht sinnvoller, hier ein negatives Erlebnis aufschreiben zu lassen, um Depression noch besser nachvollziehen zu können?“ Ihre Antwort lässt mich dann wieder etwas trauriger werden: „Stell’ dir vor, dir fällt gar kein schönes Erlebnis ein. So geht es den an Depression leidenden Menschen.“
Verwirrung im „Psychoseraum“
Weniger Traurigkeit, dafür aber umso mehr Orientierungslosigkeit und Verwirrung erfahre ich im zweiten Teil der Ausstellung, dem „Psychoseraum“. Dieser ist als Supermarkt konzipiert. Wie andere Besucherinnen und Besucher bekomme ich die Aufgabe, einen ganz normalen Einkauf zu tätigen. Auf einem Einkaufszettel, der mir in die Hand gedrückt wird, steht Verschiedenes, was ich besorgen soll: von Hundefutter bis zu Spülhandschuhen. Auch hier höre ich über Kopfhörer Stimmen. Teils sind es reale wie „Schauen Sie sich unsere Sonderangebote an“, teils irreale wie „Wir holen dich, wir kriegen dich“. Das „Supermarktpersonal“ – in Wirklichkeit Caritasmitarbeiterinnen und –mitarbeiter – ist anders als gewohnt überhaupt nicht hilfsbereit. Auf meine Frage, wo ich Spülhandschuhe finde, bleibt es stumm. Mit ihren dunklen undurchschaubaren Brillen vermitteln mir die vermeintlichen Verkäufer eher den Eindruck, dass sie mich verfolgen und ständig beobachten. Als ich mich nach einem Griff ins Regal umdrehe, ist mein Einkaufswagen plötzlich verschwunden. Ich finde ihn ein paar Meter weiter. Das Supermarktpersonal hat mir einige Flaschen in den Wagen gelegt, die ich überhaupt nicht einkaufen will. Nach dem Besuch des Psychoseraumes erfahre ich, dass es einige Dinge, die auf meinem Einkaufszettel standen, gar nicht in dem Supermarkt gibt.
In der Ausstellung konnte ich ansatzweise erleben, wie es Menschen mit psychischen Erkrankungen ergeht. Nur ansatzweise deshalb, weil ich natürlich wusste, dass ich im Ernstfall den Besuch der beiden Räume abbrechen kann und er ohnehin nur einige Minuten dauert. Die Betroffenen leiden hingegen ständig unter ihren Belastungen. Und das ist wiederum für Nichtbetroffene kaum vorstellbar. „Grenzen erleben“ hat hier ihre Grenze – und ich bin froh über mein Leben, so wie es ist.