Zwischen Grandiosität und Ohnmacht
Als die 11-jährige Maria zur ersten Therapiestunde in die Familienberatungsstelle der Caritas kommt, sind ihre Hände vom vielen Waschen rot und rissig. "Sogar in der Schule ist sie immer wieder aus dem Unterricht gelaufen, um sich die Hände zu waschen", erzählt Berin Arukaslan. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Heilpädagogin, systemische Familientherapeutin und eine attraktive Frau mit langen dunklen Haaren und großen silbernen Ohrringen.
"Eine Lehrerin bemerkte die Zwangshandlungen", erzählt sie weiter. "Ihr war auch aufgefallen, dass das Kind ständig übermüdet war. Es stellte sich heraus, dass Maria vor der Schule immer wieder ihre Schultasche ein- und auspackte und dafür häufig schon um fünf Uhr morgens aufstand. Das Mädchen kam im Rahmen einer Krisenintervention für ein paar Tage in eine Klinik und begann dann eine ambulante Therapie."
Maria übernimmt die Elternrolle
Der Vater von Maria ist Türke, die Mutter Deutsche. Beide Eltern haben ein Suchtproblem, auch Gewalt spielt eine Rolle. Mit sieben Jahren hat die kleine Maria bereits einen Großteil der Erziehungsaufgaben für ihre beiden kleineren Geschwister übernommen: Sie weckt sie morgens, macht ihnen das Frühstück und bringt sie in den Kindergarten. Nach der Schule holt sie sie häufig wieder ab.
Als das Mädchen unter dem permanenten Druck zusammenbricht und mit einer schweren Zwangsstörung in die Klinik kommt, kollabiert das Familiensystem und offenbart sich in seiner ganzen Not. Das Jugendamt fordert die Eltern auf zu kooperieren und Hilfe in Anspruch zu nehmen, andernfalls würden sie das Mädchen aus der Familie nehmen. Der Mann sträubt sich, die Frau ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie will ihre Tochter nicht verlieren, eher überlegt sie, den Mann vor die Tür zu setzen. Das öffnet ihm die Augen und er erklärt sich zögerlich bereit, eine Therapie zu beginnen. Dass seine Beraterin ebenfalls aus der Türkei stammt, hilft ihm zwar einerseits, andererseits ist auch die Scham besonders groß einer Frau gegenüber, die aus derselben türkischen Community kommt.
Viele Familien schreien nach Hilfe
Zwei Jahre lang ist eine Familienhelferin in der Familie, die Marias Aufgaben übernimmt, zwei Jahre lang sind Eltern und Kinder (Maria und ihre Geschwister) in Therapie. Sie haben gelernt zu vertrauen, sie haben gelernt, Konflikte anders zu lösen als mit Alkohol und Gewalt. Die Eltern haben sich getrennt und sind wieder zusammen gekommen, der Vater hat nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit einen festen Job gefunden.
"Dieser Fall ist einer meiner Lieblingsfälle", sagt Frau Arukaslan. "Die Familie hat eine positive Entwicklung genommen, insgesamt ist es glücklich ausgegangen. Es war nicht einfach, aber fruchtbar. Das ist nicht immer so. Viele Familiensysteme schreien förmlich nach Hilfe, können sie dann aber nicht annehmen, haben kein Vertrauen und entziehen sich. Ich finde es gut, dass es solche Einrichtungen wie unsere gibt. Gut, dass diese Familie das Potenzial zum Vertrauen hatte und gut, dass sie es genutzt haben."
Vor kurzem kam Maria in die Beratungsstelle, um Berin Arukaslan zu besuchen. Mittlerweile steht sie kurz vor dem Abitur. "Ich weiß gar nicht mehr, wie das früher war mit meiner Zwangsstörung", sagte sie. "Das Gefühl ist mir ganz fremd geworden."