Den Blick auf Jungen verändert
Ganz bewusst hat das Projekt Trommelwirbel in den vergangenen drei Jahren deshalb die Jungen aus sechs Offenen Ganztagsgrundschulen eingeladen, Trommeln zu bauen und ihre Gefühle trommelnd auszudrücken. Unter sich sind sie anders. Verändert hat sich auch die Arbeit in den beteiligten OGS - und künftig auch in weiteren, hoffen die Projektverantwortlichen.
Trommeln statt Schule - das ließen sich die Jungen nicht entgehen. Stolz präsentierten sie ihre selbstgebauten Instrumente, zeigten mit Trommelbauer Christoph Suder, wie sie traurige Gefühle aber auch Begeisterung damit auszudrücken gelernt haben. Aber danach ging es - weniger euphorisch - doch zurück in den Unterricht der Cordula-Grundschule in Borken-Gemen. Die Erwachsenen beschäftigten sich weiter mit Idee und Ergebnissen des Caritas-Projekts Trommelwirbel im Rittersaal der Jugendburg. Einig waren sich alle Akteure: Es hat den Blick auf Jungen verändert, so Projektleiter Dr. Bernhard Hülsken vom Diözesancaritasverband Münster. Und damit auch die Arbeit der Offenen Ganztagsgrundschulen in Trägerschaft der Caritas in Borken, Dülmen, Lünen, Rheinberg, Warendorf und Wesel.
Für Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann ist dies einmal mehr Beleg dafür, dass die „OGS nicht bloß ein Verwahrort ist, sondern ein pädagogisches Angebot, das gut fördern kann“. Allerdings seien Schule und Jugendhilfe vielerorts immer noch „zwei Galaxien, die aneinander vorbeirasen“. Die Rahmenbedingungen seien vielerorts unzureichend. Umso wichtiger sei es, die OGS weiter zu stärken.
Jungen werden häufig erst dann wahrgenommen, wenn sie problematisch werden, sagte Sandro Dell‘Anna von der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit in NRW, einem der Kooperationspartner. Dass ein großer Träger wie die Caritas sie in den Blick nehme, sei noch recht ungewöhnlich.
Aber offensichtlich notwendig, denn von Elternhaus über Kita und Grundschule werden Jungen fast nur von Frauen begleitet. Sie selbst sagen, hat Theaterpädagoge Wilhelm Neu in der Projektarbeit erfahren, dass Mädchen „empfindlich seien“ und immer alles besser wüssten. Unter sich seien die Jungen deutlich entspannter, die Geschlechterkonkurrenz bleibe außen vor.
In einwöchigen Workshops haben die Grundschüler an den sechs Projekstandorten ihre eigenen Trommeln gebaut, ein Theaterstück dazu entwickelt und zum Abschluss aufgeführt. Anschließend haben sie sich weiter über ein halbes Jahr wöchentlich getroffen. Begleitend haben sich die OGS-Leitungen von der LAG Jungenarbeit fortbilden lassen.
Das hat nachhaltige Folgen, wie Karina Keichel-Sitterlee, deren Jungen den Auftakt getrommelt hatten, an einem Beispiel deutlich machte. Es gibt jetzt eine Jungengruppe, an der ein Jahr lang teilgenommen werden muss. Da darf mal gekämpft werden oder es geht in den Wald, um mit scharfen Messern zu schnitzen. Wobei, so die OGS-Leiterin, es inzwischen parallel eine Mädchengruppe gibt, die sich das identische Programm wie die Jungen gewünscht hat.
Gelungen ist es auch, an einigen Standorten die Schulleitungen für das Thema zu sensibilisieren. So ist in Rheinberg im kommenden Jahr eine gemeinsame Fortbildung geplant. Damit sich nicht nur gefühlt was bewegt, haben Studierende der Katholischen Hochschule das Projekt begleitet. Erkenntnis in einem ersten Zwischenergebnis: Jungen sind konzentrierter, wenn sie eine eigene Aufgabe bekommen.
Nach dem ersten erfolgreichen Schritt im Projekt Trommelwirbel, das über drei Jahre von der Aktion Mensch gefördert worden ist, bleibt allerdings noch viel zu tun. Prof. Dr. Ulrich Deinet von der Hochschule Düsseldorf hat die Rolle der OGS aus dem Blickwinkel der Kinder untersucht. Das sei noch ziemlich selten, aber heute umso wichtiger, weil weniger die Familie das Zentrum für die Kinder sei, sondern zunehmend die Ganztagsschule, in der sie acht Stunden und länger verbrächten.
Schulen seien dafür allerdings nicht gebaut. Hier stelle sich die Frage, wie Gebäude und Gelände gestaltet werden könnten, um einen förderlichen Sozialraum anbieten zu können. Die Kinder beklagten sich unter anderem selbst darüber, dass es zu laut sei und sie keine Rückzugsräume hätten. Problematisch sei auch, dass Kinder im Grundschulalter das natürliche Bedürfnis hätten, ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Stattdessen seien sie „institutionell eingespannt“. Deswegen seien außerschulische Partner wichtig, die neue Erfahrungen zum Beispiel durch Ausflüge auf Abenteuerspielplätze ermöglichten.
Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann forderte dazu auf kritisch zu schauen, wo auch die eigenen Angebote möglicherweise die Freiheit, die sich Kinder wünschten, wieder einschränkten. Es müsse die Chance genutzt werden, dass „wir die OGS mitgestalten können“.