Wohnanlage in zwei Ländern
Wenn die WG-Bewohnerinnen des Bültenhauses am großen Tisch im Gemeinschaftsraum gemütlich ihren Kaffee trinken, sitzen die einen in Deutschland und die anderen in Holland. Eine Grenzerfahrung, die vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen wäre. Da zog sich unter ihnen ein Stacheldrahtzaun den Hellweg entlang, der das niederländische Dinxperlo vom Bocholter Stadtteil Suderwick nicht nur räumlich trennte. Auch in den Köpfen waren die feindseligen Gefühle der Bürger kurz nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig, die auf beiden Seiten der trennenden Straße wohnten. Wer heute durch die Gemeinde mit den zwei Namen und Nationalitäten fährt, muss schon genau hinsehen, um seinen nationalen Standort zu finden. Gelbe Kreuze auf dem Pflaster geben Hinweise. Die gibt es auch auf der gläsernen Brücke, die sich zwischen den Altenwohnungen und der Alten-Wohngemeinschaft im Bültenhaus und dem niederländischen Altenheim über den Hellweg spannt. Auf der deutschen Seite liegt der Gemeinschaftsraum, in Holland die „Taverne“, ein gemeinsam nutzbares Café.
Begeistert von Europa, vollzog man vor zehn Jahren diesen einmaligen Brückenschlag als Verbindung zweier Altenhilfe-Einrichtungen. Die Bewohner sollten sich über die Grenze hinweg begegnen und gemeinsam gepflegt werden. Auf deutscher Seite waren drei der neun WG-Zimmer für Holländer vorgesehen.
Europäischer Alltag statt Euphorie
Dinxperlo und Suderwick gehören als Dorfgemeinschaft längst wieder zusammen. Aber die erhoffte Begegnung findet kaum statt. Julia Menke, Teamleiterin der Pflegewohngemeinschaft, vermutet: „Das hängt mit den Kriegserlebnissen zusammen.“ Die Bewohner auf beiden Seiten haben die Zeit noch erlebt. Das kann sich in kommenden Generationen auswachsen.
Bleiben wird eine unsichtbare, aber kaum zu überwindende Grenze: die unterschiedlichen Systeme der Abrechnung. Daran ist die Idee des wechselseitigen Wohnens gescheitert. „In Holland ist das System mehr gemeindeorientiert“, erklärt Sabine Kremer vom evangelischen Johanneswerk. In Deutschland gelten die Regeln der Pflegeversicherung und der Sozialhilfeträger. Dass daraus ein einheitliches europäisches Sozialsystem entstehen könnte, dazu fehlen ihr Fantasie und Glaube.
Mehr Miteinander wäre allerdings wieder möglich. „Wenn man neu anfängt, könnte es gelingen“, sagt Kremer. Das hat es anfangs durchaus gegeben, berichtet Julia Menke, die im Bültenhaus die mittlerweile überwiegend an Demenz erkrankten Bewohnerinnen betreut. Eine inzwischen verstorbene Bewohnerin habe jeden Abend ihre holländische Freundin auf der anderen Straßenseite besucht. Nachts hätten holländische Kolleginnen dreimal vorbeigeschaut und das Telefon übernommen, bis im Bültenhaus eine eigene Nachtbereitschaft notwendig geworden sei.
Durchlässig ist die Grenze über die Brücke nach wie vor. Julia Menke kann mit ihrem Schlüssel direkt in die Nachbareinrichtung, hat aber noch keine Kontakte geknüpft, seit sie vor einem Jahr ins Bültenhaus gekommen ist. Die würden sich in einem Notfall zwangsläufig ergeben. Dann wäre man aufeinander angewiesen, weil der Aufzug auf deutscher Seite keinen Liegend-Transport zulässt. Unten im Eingang hängt deshalb eine detaillierte Anweisung für Rettungskräfte und Notarzt. Die müssen mit der Trage durch das holländische Altenheim über die Brücke durch die Taverne auf die deutsche Seite kommen.
Der Wunsch, die Ursprungsidee noch einmal zu beleben, und Reste des Zusammenlebens sind geblieben. Die Taverne wird gelegentlich nach Anmeldung für Geburtstagsfeiern genutzt. Beliebt sind vor allem Fahrten mit dem Elektromobil, die holländische Ehrenamtliche für alle alten Bewohner anbieten. Edith Kistela (84) ist vor Jahren in eine der Altenwohnungen gezogen. Als Kind hat sie Familienangehörige im Krieg verloren und wurde aus Oberschlesien vertrieben. Ihr gefällt das Miteinander zwischen den so eng und schon so lange zusammenwohnenden Nationalitäten.
Vieles erinnert noch an die überwundene Grenze. Der Pennymarkt auf der deutschen Seite heißt „Grenzstation“. „Es gibt noch die Menschen, die vom Grenzzaun erzählen können“, sagt Lucia Hemming, Betreuerin für die zwölf
Altenwohnungen im Erdgeschoss des Bültenhauses. Und sie erinnert sich, dass sie in der rechten Tasche Gulden und in der linken D-Mark hatte. Man durfte auch nicht nur so zum Tanken nach Holland, nur mit grüner Versicherungskarte. Man musste zudem in Holland irgendetwas kaufen, und das wurde kontrolliert.
Ohne Geldumtausch und mit offener Grenze ist das Leben einfacher, nur weniger spannend. „Geschmuggelt haben hier eigentlich alle“, sind sich Sabine Kremer, Julia Menke und Lucia Hemming einig. Heute nutzen Radler und Spaziergänger die kleinen Wege, die sich durch die Wohngebiete ziehen.