Mit fremden Augen sehen lernen
Heute sitzen dort, wo einst die Verkaufstheke stand, türkische Frauen zum Teil mit Kopftüchern und lernen im jetzigen Bewohnerzentrum "Am Rüsing" Deutsch. Das Bewohnerzentrum ist Teil des Familienzentrums des Sozialdienstes Katholischer Frauen (SkF) in Lippstadt. Damit es dazu kommen konnte, waren viele Überlegungen notwendig, bei denen auch die so genannte Sinus-Milieu-Studie half. Diese Studie gruppiert Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln.
Das Bewohnerzentrum liegt in einem Problemgebiet der rund 40000 Einwohner zählenden Kernstadt. In den großen Mietshäusern der Siedlung wohnen inzwischen 90 Prozent Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund, vor allem muslimische Türken. Da ist doch eigentlich der Bedarf für Hilfen zur Integration groß, dachten drei sozial-engagierte Frauen: Ute Stockhausen, Geschäftsführerin des SKF in Lippstadt, Dorothee Großekathöfer, Leiterin des Familienzentrums "Am Stadtwald" und Elke Schmeenk, die Leiterin des katholischen Kindergartens in dem Gebiet. Das Familienzentrum eröffnete in dem ehemaligen Bäckerladen das Bewohnerzentrum "Am Rüsing". Es sollte ein Treffpunkt für die Bewohner sein mit Angeboten und Hilfen für eine Integration in die deutsche Gesellschaft. Doch die Akzeptanz war enttäuschend für die Frauen. "Trotz niederschwelliger Angebote kamen die Leute nicht", sagt Dorothee Großekathöfer, obwohl Am Rüsing rund 1000 Menschen wohnen.
Abhilfe sollten Erkenntnisse der Sinus-Milieu-Studie schaffen. Mit Hilfe des Paderborner Generalvikariates wurde eine Fortbildung veranstaltet, das Wohngebiet durch die Brille des Sinus-Milieus zu sehen. "Wir haben erst einmal viele Fotos von unserem Standort gemacht", sagt Ute Stockhausen. "Dabei ist uns erst bewusst geworden: Wie sieht das denn aus? Welche Außenwirkung hat unser Angebot und unser Lokal?" Eigentlich sei alles so gewesen, wie wir selbst uns wohl fühlen. Der springende Punkt sei gewesen, dass das bei den Adressaten nicht der Fall gewesen ist.
So wurde die Optik des Treffpunkts geändert: schnörkellos, eher karg und steril, ein paar Tische, ein paar Stühle, weiße Wände. Einladungen seien nicht mehr in wohlige Worte gefasst worden mit Begründungen und einladenden Floskeln. "Da muss nur draufstehen: Wann, Wer, ohne Kosten", sagt Ute Stockhausen. Und die Teilnehmer müssten etwas bekommen. "Konsummaterialismus" nenne das die Studie. Bildung allein werde nicht als wertvoll und attraktiv betrachtet. Das müsse schon etwas Materielles sein.
Ähnliche Erfahrungen machte auch Elke Schmeenk im Kindergarten. Obwohl er von vielen türkischen Kindern besucht wird, sei die Elternarbeit gegen Null gegangen. "Wir haben unsere Angebote noch niederschwelliger gemacht. Wir haben uns in die Werte der anderen, meist bildungsfernen Menschen eingedacht und für Deutsche nicht nachvollziehbare Hürden gefunden", sagt die Kindergartenleiterin. So habe das Verteilen von Schultaschen einen ungeahnten Erfolg für die Elternarbeit gebracht. Wenn man für deutsche Eltern propagiere: "Kommen sie zum Elternabend, sie bekommen eine Schultasche", ging der Schuss in die genau andere Richtung los: Wenn ich zu dem Abend komme, könnten ja andere denken, ich käme nur wegen der Tasche. Jetzt ist die Elternarbeit des Kindergartens in die Angebote des Bewohnerzentrums integriert.
Sie hätten schon so viele kleine Fallen entdeckt, sagte Dorothee Großekathöfer, die für ihre Angebote aus den Augen des anderen Kulturkreises abträglich wären, und erinnert sich an den Termin eines Schwimmkurses für Frauen. Die ansonsten anwesende Bademeisterin war krank und wurde durch ihren männlichen Kollegen vertreten. Folge: Das Schwimmen musste an dem Tag abgesagt werden. Das sei für deutsche Vorstellungen eher kurios, für die Akzeptanz von Angeboten aber unerlässlich. Man muss die Klienten eben da abholen, wo sie stehen, zitiert Ute Stockhausen eine alte sozialpädagogische Regel. Und in dem alten Bäckerladen gibt es jetzt deutsche Werte huckepack mit Materiellem.