Gleicher hilft Gleichen
„Ich bin Magier, aber ich weiß nichts“, erzählt der 30-jährige Sebastian Simmel. Immerhin weiß er noch, dass er im Rollenspiel „Das schwarze Auge“ derzeit in der Taverne „Zum vollen Krug“ arbeitet. Viel mehr hat er sich allerdings nicht gemerkt. Sein Mitspieler, der 44-jährige David Steinhübl, erinnert ihn daran, dass er nach einer Entführung befreit wurde und jetzt die Möglichkeit hat, sich entweder zu rächen oder in die Magierakademie des Vaters zu gehen. Sebastian zeigt sich unschlüssig.
Die beiden Spieler sitzen gemeinsam an einem Tisch in einem Therapieraum der Wohn- und Förderstätte von Regens Wagner für Menschen nach Schädel-Hirn-Trauma in Treuchtlingen. Sebastian Simmel wohnt dort, während David Steinhübl seit Februar dieses Jahres freier Mitarbeiter ist. Steinhübl fragte ihn zu Beginn der Therapie, was er früher gerne gemacht hatte, als er noch fit war. Da stellte sich heraus, dass beide eine Vorliebe für „Das schwarze Auge“ hatten. „Mir macht es einfach Spaß, mich in eine andere Welt hineinzuversetzen“, erklärt der Bewohner. David Steinhübl setzt darauf, dass das „Tätigsein in der Phantasiewelt auch Vorteile für die Realwelt bringt“, vor allem Simmels Gedächtnis dadurch geschult wird.
„Besser mit ihm“
Dieser schätzt es in besonderer Weise, mit David Steinhübl zu spielen und therapeutisch in Beziehung zu stehen. „Es ist ähnlich wie mit anderen, aber besser mit ihm.“ Dass Sebastian Simmel dies so empfindet, hat seinem Eindruck nach damit zu tun, dass er ein ähnliches einschneidendes Schicksalserlebnis hatte wie sein freiberuflicher Therapeut: Beide erlitten vor mehreren Jahren nach einem Verkehrsunfall ein Schädel-Hirn-Trauma. Dass der in Nürnberg wohnende promovierte Soziologe David Steinhübl heute überhaupt wieder beruflich – wenn auch derzeit nur im geringfügigen Umfang von vier Wochenstunden – tätig ist, gleicht einem Wunder: „Nach dem Unfall im Jahr 2004 lag ich erst einige Wochen im Koma, bin dann aufgewacht und musste absolut bei null anfangen“, bringt er das Ereignis auf den Punkt. Doch so widersprüchlich es klingt: Es war ein Wendepunkt, den er nicht mehr rückgängig machen möchte, selbst wenn er es könnte. „Durch meine zweite Bewusstwerdung habe ich erkannt, was wirklich wichtig im Leben ist und mir auch eine bestimmte Sensibilität automatisch angeeignet“, erzählt er.
„Mein zweites Leben“ beschreibt David Steinhübl eingehend in seinem gleichnamigen 2012 erschienenen Buch. „Emotional fühle ich mich intelligenter, als ich jemals war“, äußert er darin unter anderem. Dankbarkeit ist eine wesentliche Motivation für ihn, sich jetzt selbst sozial zu engagieren: „Ohne die Hilfe von anderen Menschen wäre nicht nur dieses Buch nie entstanden, sondern meine Entwicklungsmöglichkeiten wären so stark eingeschränkt, dass kaum Glück, kaum Liebe und kaum Sinn für mich zu entdecken wären“, schreibt er.
Gerne hätte Steinhübl seine Erfahrungen bereits früher stärker zum Wohl anderer Menschen eingebracht. Er wurde als freiberuflicher Coach tätig, doch erreichte nur wenige Klienten. Dass er nun im Regens Wagner Haus Treuchtlingen mitarbeiten kann, verdankt er einem eigenen Vortrag 2015 in Dillingen vor Führungskräften des mit der Caritas verbundenen Werkes. Die Stiftung Absberg, zu der die Einrichtung in Treuchtlingen gehört, gab ihm daraufhin eine Chance. „Regens Wagner geht auf meine Stärken und Wünsche ein, versucht, meine Fähigkeiten zu nutzen und honoriert und bezahlt meine Arbeit auch“, freut sich David Steinhübl. Seine besonderen Fähigkeiten hat er bisher nicht nur in der Zusammenarbeit mit Sebastian Simmel gezeigt, sondern auch bei anderen Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma. Im Umgang mit einer früheren Bewohnerin der Treuchtlinger Einrichtung half ihm seine besondere Sensibilität beispielsweise zu erkennen, weshalb sie eines Tages verstört wirkte. Andere hätten dies möglicherweise schlicht als schlechte Laune abgetan. David Steinhübl stellte hingegen fest, dass sie sich verliebt hatte. „Ich schaue mir wohl auf andere Weise die Leute an, und bei der Bewohnerin hatte ich gemerkt, dass irgendetwas Gefühlshaftes bei ihr da ist“, umschreibt er sein Vorgehen. Auch dass David Steinhübl oft Bewohnerinnen und Bewohner im Rollstuhl in einen Park fährt, kommt nicht von ungefähr: „Ich habe fast keine Erinnerung mehr an die Zeit nach meinem Unfall und die Reha, aber ich weiß, dass es angenehm war, in der Natur zu sein.“
Einfühlsam und professionell
In der Situation „Gleicher hilft Gleichen“ “ – im Fachjargon als „peer support“ bezeichnet – sieht Manfred Rehm, Leiter der Regens Wagner-Einrichtung in Treuchtlingen, denn auch einen wesentlichen Vorteil für die betreuten Menschen. „Sie spüren in der Begegnung, dass da ein Mensch ist, der sich in sie hineinversetzen kann und dies mit Geduld tut.“ Ebenso wichtig ist dem Leiter aber auch die Professionalität, die der neue Mitarbeiter nach seiner Beobachtung auch im Austausch mit den Kollegen an den Tag legt. „Die Kombination von Empathie und Fachlichkeit gibt seiner Arbeit ein besonderes Profil“, so Rehm. Er wie Steinhübl selbst können sich vorstellen, die Zusammenarbeit demnächst über die geringfügige Basis hinaus auszuweiten. Nach Kenntnis von Manfred Rehm ist David Steinhübl „ein bisher einzigartiges Beispiel für Inklusion von und für Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma“.