Vom Kommen zum Gehen
"Am Anfang", sagt Tanja Scheuermann, "halte ich es wie auf einer Party": Da komme man auch mit Small Talk langsam ins Gespräch, bevor es persönlicher oder gar ernster wird. Denn zunächst muss Tanja Scheuermann das Vertrauen der Menschen gewinnen, die sie anspricht. Nur so hat ihre Arbeit als Streetworkerin Aussicht auf Erfolg.
Tanja Scheuermann (41) ist eine der fünf Streetworker, die seit vergangenem Jahr im Kreis Unna unterwegs sind, um Menschen zu helfen, die bislang durch das Hilfsnetz im Kreis nicht erreicht werden. Denn längst nicht alle Menschen in existenzbedrohenden Nöten - so der Gedanke hinter dem Konzept mit dem Titel "LOTSE" - suchen die eigentlich für sie gedachten stationären Dienste auf. So kommen viele Betroffene eben nicht in Kontakt mit den Betreuungs-, Übernachtungs- und Beratungsangeboten, die der Caritasverband und andere Träger teils seit Jahrzehnten betreiben. Und schon jetzt - wenige Monate nach dem eigentlichen Start des Projekts - wird deutlich, dass diese Grundannahme ins Schwarze trifft. Alleine Tanja Scheuermann hat gegenwärtig zu 70 Menschen intensiven Kontakt, die dringend Unterstützung benötigen, aber bisher durch das soziale Netz gefallen sind.
Da ist etwa der 55-jährige Mann mit einer chronischen psychischen Erkrankung, die ihn an einem normalen oder gar strukturierten Lebensalltag hindert. Er benötigt vergleichsweise kleine Hilfen - zum Beispiel bei der für ihn schwierigen Kommunikation mit Behörden - die sein Leben jedoch erheblich erleichtern.
Ein 20-jähriger Mann, der von seiner Mutter vor die Tür gesetzt wurde, seitdem er immer wieder polizeilich auffällig wurde und auf der Straße lebt, findet unter Tanja Scheuermanns Begleitung langsam Perspektiven für eine Neuordnung seiner prekären Situation. Der mit hoher Wahrscheinlichkeit geistig behinderte junge Mann hat nie die Betreuung und Therapie erfahren, die eigentlich nötig gewesen wäre - einfach, weil sich niemand seiner angenommen hatte. Das will die Streetworkerin nun nachholen.
Neben der Kontaktaufnahme, dem Vertrauensgewinn und einer ersten Analyse der Situation ist sie dabei vor allem koordinatorisch tätig und zieht ihre vielen Partner aus dem regionalen Hilfsnetzwerk hinzu, um professionelle und nachhaltige Unterstützung zu leisten.
Tanja Scheuermann lernt ihre Klienten kennen, indem sie zu ihnen geht. Gezielt sucht sie die typischen Treffpunkte der Betroffenen auf und gewinnt durch ihre niederschwellige Ansprache und eine Kommunikation auf Augenhöhe das Vertrauen der Menschen. In anderen Fällen geht sie Hinweisen auf möglicherweise gefährdete Menschen nach. Blindbesuche heißen diese Kontaktaufnahmen - etwa im Fall einer Frau, die seit Monaten keine Miete mehr an die städtische Wohnungsbaugesellschaft zahlt. Gerade hier kann das neue Konzept seine ganze Wirkung entfalten, indem Hilfen greifen, bevor ein Mensch in die Sackgasse der Wohnungslosigkeit gerät und weitere - teils irreparable - Schäden erleidet. Schäden, die nicht sein müssen, wenn die fachliche Unterstützung rechtzeitig kommt.
Info-Kasten:
Das Projekt LOTSE wird durch den Europäischen Hilfsfond EHAP bzw. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert. EHAP steht für "Europäischer Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen". Unter Federführung des Caritasverbandes für den Kreis Unna wurde LOTSE zusammen mit den anderen Wohnungslosenhilfeträgern Diakonie Dortmund und Lünen, dem Frauenforum im Kreis Unna sowie dem Kreis Unna selbst im Jahr 2016 an den Start gebracht.