„Wenn mein Sorgeneimer voll ist, kann ich den hier ausschütten”
Als sie die Beerdigung ihres ungeborenen Sohnes vorbereitete, war Saida Al Hamadi* in der 22. Woche schwanger. Die Chancen, dass ihr Baby überleben würde, standen schlecht. Bei der feindiagnostischen Ultraschalluntersuchung hatte sich herausgestellt, dass das Ungeborene an einer lebensbedrohlichen Herzfehlbildung litt. Hypoplastisches Linksherzsyndrom, einer der schlimmsten Herzfehler überhaupt.
"Andere Frauen in dieser Situation hätten ernsthaft überlegt, die Schwangerschaft abzubrechen", sagt Psychologin Anke Fricke. Sie berät Frauen und Familien in der zum Sozialdienst katholischer Frauen Berlin e. V. gehörenden Schwangerschaftsberatung Lydia. „Für Frau Al Hamadi stand von Anfang an fest, dass sie das Kind bekommen möchte. Sie ist gläubige Muslima, eine Abtreibung hätte sie sich nicht vorstellen können."
Schwangerschaftsberatung als Baustein eines umfassenden Hilfenetzes
Einmal in der Woche fuhr die Schwangere eine halbe Stunde mit der U-Bahn von Berlin-Wedding zur Beratungsstelle im Stadtteil Neukölln. "Wenn mein Sorgeneimer voll war, konnte ich den hier ausschütten", sagt sie. Die Geburtsklinik wusste um die Schwierigkeiten. "So zwiespältig man zur Feindiagnostik stehen kann - der Vorteil ist, dass man in Fall von Komplikationen ein gutes Geburtsmanagement vorhalten kann", sagt Anke Fricke. Zwei Ärzte waren die ganze Zeit dabei, als Saida Al Hamadi ihr Baby bekam. Sobald das Kind auf der Welt war, wurde es in das anliegende Herzzentrum gebracht.
Anke Fricke ist eine vom insgesamt vier Beraterinnen, die bei Lydia arbeiten. Ihre vier Kolleginnen sind Diplom-Pädagoginnen oder Diplom-Sozialpädagoginnen. An der Anmeldung sitzt Fatima Gurr, die Verwaltungskraft.
Die Nachfrage nach Beratung ist hoch, gerade in Nord-Neukölln, wo die Beratungsstelle Lydia angesiedelt ist. Gemessen an der Einwohnerzahl kommen nirgends in Berlin so viele Kinder zur Welt wie hier. Bis zum Jahr 2030 wird die Bevölkerung nach Prognosen der Koordinierungsstelle Gesundheit des Neuköllner Bezirksamtes um 11,5 Prozent angewachsen sein. Allerdings leben hier besonders viele Menschen in prekären Verhältnissen.
Das merken auch die Beraterinnen.
Häufige Frage: Wie finanziere ich das Leben mit dem Kind?
Bei den etwa 2000 Beratungsfällen, die die Frauen pro Jahr betreuen, geht ein Großteil der Fragen um Finanzielles, etwa darum, Gelder für eine Babyerstausstattung oder für Schwangerschaftsbekleidung zu beantragen. Andere Beratungen drehen sich ums Elterngeld oder die Elternzeit. "Das interessiert vor allem freiberuflich arbeitende Eltern, zum Beispiel Künstler, die in prekären Verhältnissen leben", sagt Beraterin Anke Fricke. In 200 Beratungen pro Jahr brauchen Frauen Hilfe, weil sie in einen Schwangerschaftskonflikt geraten. "Sie haben einen medizinischen Befund, so wie das auch bei Frau Al Hamadi war, und müssen sich entscheiden, ob sie das Kind austragen oder nicht", sagt Anke Fricke, "es gibt keine Frau, die diese Entscheidung leichtfertig fällt. Das ist für jede ein großer innerer Kampf."
Als katholische Einrichtung beraten Anke Fricke und ihre Kolleginnen immer zum Schutz des Lebens, auch des ungeborenen. Maßgabe sind dabei die Bischöflichen Richtlinien für katholische Schwangerschaftsberatungsstellen aus dem Jahr 2000. Beratungsscheine ausgeben können die Lydia-Beraterinnen nicht. Die sind nach Paragraf fünf und sechs des Schwangerschaftskonfliktgesetzes nötig, wenn Frauen innerhalb der gesetzlich erlaubten Frist straffrei eine Schwangerschaft abbrechen wollen. "Weil wir diese Scheine wegen unserer konfessionellen Bindung nicht ausstellen können, werden wir vom Senat für Gesundheit nur mit 80 Prozent finanziert, die restlichen 20 Prozent müssen wir mit Spendengeldern erwirtschaften", erklärt Anke Fricke.
Ressourcen in schwierigen Zeiten aktivieren
Eigentlich endet die Beratungszeit nach dem dritten Lebensjahr des Kindes. Doch manche kommen länger - so wie Saida Al Hamadi. Ihr Sohn hat trotz seines schweren Herzfehler überlebt. Er ist heute zehn Jahre alt, ein hübscher, zarter Junge mit blitzenden dunklen Augen. Drei Operationen hat er in seinen ersten drei Lebensjahren durchstehen müssen. Er gilt als schwerbehindert, geht aber auf eine Regelschule. "Wir behandeln ihn so normal wie möglich", sagt seine Mutter. Zur Normalität gehörte für sie auch, dass ihr Ältester inzwischen zwei Brüder bekommen hat. Für Saida Al Hamadi war das keine leichte Entscheidung. "Viele Frauen mit behinderten Kindern haben Angst, wenn sie erneut schwanger sind", ist die Erfahrung von Anke Fricke, "ich versuche, gemeinsam mit der Klientin Ressourcen zu finden, die ihr helfen können." Und wenn ihre Klientinnen doch mehr Hilfe in Form einer Therapie braucht, vermittelt sie zu niedergelassenen Psychotherapeuten oder Familienberatungsstellen.
Anke Fricke war Saida Al Hamadi eine große Stütze. "Frau Fricke versteht mich", sagt die 36-Jährige, "mit ihr zu reden, tut mir gut." Inzwischen ist sie nur noch alle drei Monate in Anke Frickes Sprechzimmer. Sie will sich über das Jobcenter weiterqualifizieren. "Dazu hatte ich ihr geraten, als sich die Situation stabilisiert hatte", sagt Anke Fricke, "Es ist gut, dass sie jetzt selbst die Initiative ergreift."
Text: Christiane Bertelsmann
Information
Die Schwangerschaftsberatung Lydia steht Frauen, Paaren und Familien unabhängig von ihrer konfessionellen Bindung offen und berät vertraulich und anonym.
Schwangerschaftsberatung Lydia
Sozialdienst katholischer Frauen e.V. - Berlin
Selchower Str. 11, 12049 Berlin
Tel. (030) 281 41 85
Mail: lydia@skf-berlin.de
Web: www.skf-berlin.de
Pax Bank Köln, IBAN: DE79 3706 0193 6006 0020 20
BIC: GENODED1PAX
*Name geändert