"Was willst du, das ich dir tue?"
Herr Dr. Soyer, wo erleben Sie Berührungsängste von Menschen mit Behinderung?
Die Berührungsängste von Menschen mit Behinderung sind gegenüber denen von „unbehinderten Menschen“ viel geringer. Es kommt bei ihnen eher die Angst zum Tragen, dass sie unsicher sind, ob sie so angenommen werden, wie sie sind. Werde ich das oder werde ich ignoriert oder abgewiesen? Ich kenne zum Beispiel eine junge Frau, die nach einem Schädel-Hirn-Trauma höchste Angst hat, dass man ihr nicht die Zeit gibt, das vorzutragen, was sie will, weil sie eine Sprachverzögerung hat. Sie fürchtet von vornherein, dass sie mit der Ungeduld der anderen rechnen muss und dass diese gar nicht zuhören, sondern sich abwenden. Das ist ihre Berührungsangst.
Hat die Frau das dann auch praktisch erlebt?
Ja, des Öfteren: vor allem, wenn sie als junge Frau einfach einmal in eine Disco gehen will wie andere. Da wenden sich plötzlich die Leute im Gespräch mit ihr ab, weil es ihnen zu lange dauert. Und das ist sehr frustrierend für sie.
Haben Sie mit ihr besprochen, was sie dagegen tun kann?
Ja, es geht darum, Transparenz zu schaffen, indem sie anderen erklärt: „Du, ich habe einen Unfall gehabt, und deshalb brauche ich manchmal länger, um etwas auszudrücken. Mein Wunsch wäre, dass du die Geduld hast, mir einfach einmal zuzuhören. Darüber würde ich mich freuen.“ Das probiert sie auch immer wieder, und teilweise hat sie auch bereits Erfolg damit. Sie geht inzwischen wieder in die Disco, nachdem sie dies nach den ersten Frustrationen nicht mehr tat. Und sie macht die Erfahrung, dass es immer besser wird.
Und welche Ängste haben ihrer Erfahrung nach vor allem Menschen ohne Behinderung im Umgang mit denen mit Behinderung?
Ich glaube, es ist zunächst die Unsicherheit, wenn sie jemandem begegnen: Der schaut fremdartig aus, der ist anders. Und dann kennt man diesen anderen zu wenig und hat Angst: Was mache ich denn? Mache ich jetzt etwas falsch? Am wichtigsten ist in der Begegnung, dass man sich mit ihm auf Augenhöhe und in einen Dialog begibt. Und man sollte auch durchaus Anforderungen an den behinderten Menschen stellen. Sie können nur teilhaben, wenn sie sich auch selbst einbringen. Das ist für sie ein Recht, aber auch eine Aufgabe.
Konkretes Beispiel: Wie sollte man einem Rollstuhlfahrer begegnen, der einen Bordstein nicht herunterkommt?
Man sollte die Situation zuerst einmal beobachten, bevor man überhaupt aktiv wird. Und wenn man dann das Gefühl hat, es wäre Hilfe nötig, sollte man diese in einer Frage anbieten: „Ich merke, Sie kommen da nicht herunter. Kann ich Ihnen helfen?“ Man sollte also nicht sofort hingehen und sagen: „Warten Sie, ich helfe dir da herunter.“ Wenn man zunächst die Frage stellt, was der Mensch mit Behinderung eigentlich will, kann sich auch schnell ein Gespräch ergeben sowie eine Hilfe, die für beide wertvoll ist. Wir haben dazu ja auch ein gutes Beispiel in der Bibel, wie Jesus das gemacht hat (Markus 10,46-52): Als der blinde Bartimäus ihn gerufen hat, ging Jesus auf ihn zu. Doch er sagte nicht „Ich bewirke jetzt ein Wunder und heile dich“, sondern er fragte zunächst „Was willst du, das ich dir tue?“ Ich glaube, das fehlt oft. Wir wissen oft schon, was wir für ihn tun sollen und wissen es eigentlich nicht. Und diese Frage, die eröffnet plötzlich, dass man sich auf Augenhöhe begegnen kann.
Wo haben Sie gelungene Begegnungen erlebt?
Neulich habe ich erlebt, wie ein junger Mann mit Behinderung, der in unserer Landwirtschaft tätig ist, mit einem kleinen Kind in einem Tretcar herumgefahren ist. Die Mutter stand daneben. Ich selbst kannte weder die Mutter noch das Kind. Ich fragte daher unseren Mann, ob er Besuch habe. Es stellte sich dann heraus, dass er erst eine Stunde zuvor die Bekanntschaft mit diesem Kind und der Frau gemacht hatte und es sich ergeben hatte, dass er nun mit dem Kind über den Hof fuhr. Und danach sah ich die drei später noch im Café. Das war ganz natürlich. Das ist für mich eine gelungene Begegnung. Die Begegnung führte dazu, dass ein Dialog entstand. Gelungene Begegnungen habe ich auch erlebt, wenn behinderte Menschen aufgrund ihres Könnens im Mittelpunkt standen: zum Beispiel bei einem Neujahrsempfang in der Heiligkreuzkirche in Kreuzberg/Berlin. Wir waren mit einigen Menschen mit Behinderung aus unserer Regens Wagner-Einrichtung in Absberg dort, um ein Theater aufzuführen. Bevor dort ein großer Abend mit Abgeordneten stattfand, gab es eine Obdachlosenspeisung. Die Wohnungslosen haben dann spontan unseren behinderten Menschen geholfen, die Bühne und Exponate aufzubauen. Und dann gab es einen Riesen-Applaus, als unsere Bewohnerinnen und Bewohner ihr Theater aufführten. Später beim Essen saßen sie gemeinsam mit den Abgeordneten an denselben Tischen, an denen es zu regem Austausch kam. Und sie wohnten im selben Hotel. Das war eine gelungene Begegnung.
Mehr Informationen über Regens Wagner Absberg ...