Mobilität ist der Schlüssel
Der Bus hat kaum angehalten, da eilen sowohl der Busfahrer als auch andere Fahrgäste zu Hilfe. „So ist das eigentlich immer“, sagt Nadine Hoischen. Der Busfahrer klappt die Rampe heraus, ein älterer Herr hilft der 20-Jährigen, mit ihrem Rollstuhl gerade auf die Rampe zu kommen. So ist das Aussteigen kein Problem. „Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist das, was mich am meisten überrascht“, freut sich die junge Frau.
Jeden Morgen ist sie mit dem Linienbus von Olsberg-Bigge, Haltestelle Bigger Bahnhof, nach Winterberg-Siedlinghausen, Haltestelle Oberdorf, unterwegs. In Siedlinghausen absolviert sie ein Praktikum in einem Blumenhandel. Die rund 20-minütige Busfahrt durch das Sauerland ist ihre tägliche Verbindung vom Wohnort zur Arbeitsstelle. Doch was bei Nadine Hoischen nicht nur an diesem Tag so offensichtlich problemlos klappt, ist für viele Menschen mit Behinderung ein Hindernis: sicher im Verkehr unterwegs zu sein und auf unvorhergesehene Situationen richtig reagieren zu können.
Zusammen mit weiteren Partnern geht das Josefsheim Bigge dieses Problem in einem zweijährigen Projekt an. Das Josefsheim qualifiziert rund 750 Menschen mit Körper-, Sinnes- und komplexen Behinderungen für den Arbeitsmarkt. „Kompetent mobil“ heißt das Projekt, es wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziell gefördert. Die Partner sind das Berufsförderungswerk Bad Wildbad im Schwarzwald, der Deutsche Rollstuhlsportverband, die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienste und Wohlfahrtspflege und das Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport der Deutschen Sporthochschule Köln.
„Wir konzentrieren uns im Projekt auf die Wege zwischen Wohnung und Arbeit“, sagt Jürgen Mies, Bildungsbegleiter im Josefsheim. „Wir möchten Menschen mit Behinderung befähigen, durch selbstständige Mobilität ihre Berufschancen zu verbessern.“ Dazu werden unter anderem ein neues Verfahren zur Einschätzung der persönlichen Situation und verschiedene Lerneinheiten entwickelt. „Wir setzen bei den Fähigkeiten der Menschen an, nicht bei den Defiziten“, erläutert Jürgen Mies. So gehe es zum Beispiel bei der persönlichen Einschätzung darum, Stärken herauszuarbeiten. „Damit können wir gezielt Ansatzpunkte der individuellen Förderung ermitteln.“
Nadine Hoischen brauchte etwas Zeit, sich an die für sie bis dahin ungewohnte Situation des Busfahrens zu gewöhnen und sich auf dem neuen Weg zur Arbeit zu orientieren. In den ersten Tagen wurde sie deshalb vom Job-Coach des Josefsheims, Klaus-Peter Körner, begleitet. „Dann ging das“, stellt sie fest. Aber was könnte sie tun, wenn einmal ein nicht rollstuhlgerechter Bus auf der Linie 356 unterwegs wäre? „Sich auf neue Situationen einstellen, selbstständig Hilfe organisieren und handeln – an dieser Stelle setzen unsere Lerneinheiten an“, sagt Jürgen Mies. „Denn wir sind uns auch bewusst, dass wir mit unserem Projekt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht unmittelbar verändern können.“
Das Projekt läuft noch bis 2014. Sowohl die Busgesellschaft Regionalverkehr Ruhr-Lippe als auch die Deutsche Bahn haben ihre Unterstützung zugesagt. Die RLG stellt dem Josefsheim einen Trainingsbus zur Verfügung, mit dem Menschen mit Behinderung das Ein- und Aussteigen ohne Zeitdruck üben können. Die Deutsche Bahn bringt sich mit behindertengerechtem Informationsmaterial in die Entwicklung der Lerneinheiten ein. Grundsätzlich, das räumt auch die Bahn ein, sei dieses in den Städten schon weiter verbreitet als in ländlichen Regionen wie dem Sauerland.
Für Nadine Hoischen ist das Praktikum in Winterberg, rund 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, ein wichtiger Schritt zur beruflichen Weiterentwicklung. Sie möchte danach ihren Horizont noch erweitern, wenn möglich weitere Praktika machen. Mobilität ist dafür die Voraussetzung. „Deshalb bin ich gespannt auf die Projektergebnisse.“