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Ein Druck auf die Taste ihres Smartphones, die Zeit läuft. Fünf Minuten hat Jenny Kamp jetzt, um bei Dorothee Altmaier (Name geändert) den künstlichen Darmausgang zu versorgen. 8,76 Euro wird sie dafür bei der Krankenkasse abrechnen können, die Anfahrt von Greven nach Reckenfeld ist da schon inklusive. Und bei fünf Minuten bleibt es morgens nicht immer. Denn wenn auch der Körper nach der Darmkrebsoperation vor knapp einem Jahr nicht mehr so recht will, geistig ist die 89jährige Dame topfit. Da gibt es immer viel zu erzählen und Zeit muss auch bleiben für Beratung und Beobachtung der Pflegesituation. Die sieht Jenny Kamp, die die Sozialstation der Caritas in Greven leitet, zunehmend knapper werden. Immer mehr Patienten, immer engere Finanzierung und ein weiter munter wachsendes Bürokratie- und Kontrollwesen inklusive immer komplizierterer Abrechnungsregeln versauern den Alltag. Was aufrecht hält sind die Kollegialität im Team der 45 Mitarbeiter und die Freude der Patienten über die Hilfe, die sie weiter zuhause wohnen lässt.
Rund 240 Patienten versorgt die Caritas in Greven, Emsdetten und Saerbeck als einer von insgesamt zehn Pflegediensten. Bedarf gibt es weit mehr. Auf der Warteliste schaut Jenny Kamp nach Dringlichkeit und welche Leistung in eine Tour zeitlich passt. Morgens um 5.30 Uhr startet die erste, zehn bis zwölf Patienten stehen auf der Liste bis gegen 10.30 Uhr. 19 Pflegetouren, sieben hauswirtschaftliche Runden und sechs Abendtouren müssen Pflegedienstleiter Ansgar Kaul und seine Stellvertreterin Jenny Kamp organisieren. Mehr Mitarbeiter wären nötig, aber Fachkräfte zu finden ist schwierig geworden, sagt sie. Das ist nur der eine Grund, warum nicht einfach mehr Personal eingestellt wird bei mehr Anfragen. Die Lohnkosten werden nicht mehr refinanziert und die Kapazität der Verwaltung würde nicht mehr ausreichen Da es für den sogenannten "Overhead" keine Vergütung gibt, würde die Sozialstation nicht mehr kostendeckend arbeiten können.
Von diesen organisatorischen Schwierigkeiten bleiben die Patienten weitgehend verschont. Jeden Morgen kommt eine Caritas-Mitarbeiterin bei Dorothee Altmaier zur Stomaversorgung vorbei. Und wenn sich der Beutel zwischendurch löst, auch ein zweites oder drittes Mal. Aber erst einmal geht es weiter. Zurück am Auto drückt Jenny Kamp die Stopptaste, die Daten werden gleich an ein Serverzentrum übermittelt. 25 Minuten stehen bei der nächsten Patientin für die morgendliche Grundpflege zur Verfügung. Dafür sieht der Leistungskatalog 19,68 Euro vor und weil hier die Pflege- und nicht die Krankenkasse bezahlt, gibt es noch die Pauschale für den Hausbesuch von 3,60 Euro dazu, womit auch die Fahrtkosten abgegolten sind.
Einmal in der Woche gönnt sich Gertraude Borkenhagen ein Duschbad, heute sind die Ganzkörperwaschung morgens und Eincremen der trockenen Haut an der Reihe. Die 84jährige hat viel erlebt, eine ganze Wand im Wohnzimmer hängt voll mit Erinnerungen: die Kinder und Enkelkinder, sie mit ihrem Mann als Karnevalsprinz und ein Foto zusammen mit Wim Thoelke anlässlich der Übergabe eines Gewinns von 100.000 Mark in Frankfurt vor vielen Jahren. Jetzt macht das Herz nicht mehr mit und die Knochen sind brüchig. Vier Wirbel sind vor einigen Monaten gebrochen, seitdem dreht sich ihr Leben um das Pflegebett, das sie ins Wohnzimmer hat stellen lassen.
Dass die Pflegemitarbeiter über die Zeit gewissermaßen ein Teil der Familie werden, ist beim dritten Einsatz spürbar. Dieter Pfeffer stellt gleich die Tasse Kaffee für Jenny Kamp mit auf den Frühstückstisch. Gerne flirtet er auch ein bisschen mit der 29jährigen. Er versorgt seine an Demenz erkrankte Frau, die inzwischen weitgehend sprachlos ist, tagsüber viel schläft, aber nachts dafür häufig unruhig ist. Jenny Kamp lässt sich wie immer nicht aufhalten von Gespräch und Scherzen. An sieben Tagen in der Woche stellen ihre Kolleginnen und sie die Medikamente für Ingrid Pfeffer bereit. Dafür sind fünf Minuten in Leistungsgruppe 1 vorgesehen, macht 8,87 Euro ohne Hausbesuchspauschale, da es eine Krankenkassenleistung ist.
In der ambulanten Pflege bleiben viele Aufgaben unbezahlt. Verordnungen beim Arzt abholen zum Beispiel oder den Haustürschlüssel für das Haus-Notruf-System abgeben wie an diesem Morgen. Oder die Erstattung deckt nicht ansatzweise den Aufwand wie bei dem Patienten mit 16 Wunden. "Die zu versorgen dauert eine Dreiviertelstunde," erklärt Jenny Kamp. 11,14 Euro gab es dafür. Nach der Auseinandersetzung mit dem MDK ist jetzt eine halbe Stunde für 22 Euro bewilligt worden.
Das Abrechnungssystem widersetzt sich insgesamt logischem Denken. Die einzelnen Leistungen sind in Gruppen eingeordnet. Kompressionsstrümpfe anziehen ist Leistungsgruppe 2, Medikamente stellen Gruppe 1. Bezahlt wird immer nur die Leistung der höchsten Gruppe. Wird beides zusammen gemacht, gibt es für das Stellen der Medikamente kein Geld. Eine Pflegeplanung und Dokumentation, die bei "multimorbiden, dementen Klienten durchaus zweieinhalb Stunden erfordern kann", so Kamp, ist mit der Hausbesuchspauschale von 3,60 Euro abgegolten.
Es gibt zwar einen einheitlichen Krankenkassenbeitrag, aber jede der 130 Kassen bundesweit hat für die Abrechnung der Pflegeleistungen, die in vier Gruppen eingeteilt sind, andere Regeln. Die dafür zuständige Mitarbeiterin in der Verwaltung der Caritas Emsdetten-Greven hat immer einen dicken Ordner damit zur Hand. Ein Fehler in der Abrechnung wird gleich mit einem Abzug von fünf Prozent geahndet.
Die enge Finanzierung verursacht den Pflegemitarbeitern und Jenny Kamp viel Stress, immer weiter muss die Arbeit verdichtet werden, müssen sie auf ihren Touren nicht nur das Wohl der Patienten sondern auch die Wirtschaftlichkeit jedes Handgriffs im Blick behalten, damit die Sozialstation nicht in die roten Zahlen rutscht. Dagegen haben sie im Rahmen der Pflegekampagne der Freien Wohlfahrtspflege NRW im April protestiert.
Harald Westbeld