Kinderkrippe - Risiko oder Chance?
Bieten Kinderkrippen für Kleinkinder mehr Chancen oder mehr Risiken?
Dr. Schnelzer: Ich denke, man muss die Thematik differenziert sehen, aber aus meiner Sicht lässt sich sagen: Insgesamt sind die Risiken erheblich.
Worauf lässt sich das begründen?
Dr. Schnelzer: Man muss die emotionale Entwicklung und die kognitive Entwicklung auseinanderhalten. In den ersten drei Lebensjahren steht die emotionale im Vordergrund. Da geht es darum, Urvertrauen, Selbstsicherheit und Bindungs- sowie Beziehungsfähigkeit zu schaffen - um das tief verankerte Gefühl, angenommen, wertvoll und geliebt zu sein. Die kognitive Entwicklung hat eher nach dem dritten Lebensjahr Bedeutung. Das zeigen Studien. In der Tiefenpsychologie geht man davon aus, dass Kinder in den ersten eineinhalb Jahren besonders verletzlich sind. Und man weiß, dass dies ein wichtiges Zeitfenster für das Entstehen psychischer Störungen ist.
Und Sie meinen, es mangelt an Zuwendung, wenn Kinder nicht bei der Mutter sind, sondern in der Einrichtung?
Dr. Schnelzer: Eine großangelegte Langzeitstudie des National Institute of Child Health and Human Development (NICHD), das dem Gesundheitsministerium der USA angegliedert ist, hatte als Ergebnis, dass für ein Kind ein umso größeres Risiko für die Ausbildung von Störungen besteht, je früher und je länger es in außerfamiliäre Betreuung kam. Die Schäden werden zwar als moderat qualifiziert, aber es gibt Risiken.
Frau Schmitz, sehen auch Sie vor allem Risiken?
Edith Schmitz: Nicht grundsätzlich. Es kommt sehr auf das einzelne Kind an und wie es auf Veränderungen reagiert. Auch der familiäre Hintergrund und die Vorerfahrungen sowie Bedingungen in der Krippe spielen eine Rolle. Wissenschaftliche Untersuchungen der Bindungs- sowie auch der Familien- und Erziehungsforschung belegen zudem, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Qualität der Fremdbetreuung und der kindlichen Entwicklung gibt. Ich würde sagen: Wo Bindung stattfindet, ist nicht das Entscheidende, sondern, dass die Bindung Qualität hat. Diese Bindung wird ein Kind natürlich am Anfang vor allem bei der Mutter suchen, aber eine Betreuungseinrichtung mit guter Qualität kann für ein Kind auch gut sein. Kinder unter einem Jahr haben wir übrigens kaum in unseren katholischen Kinderkrippen. Doch ab dem zweiten Lebensjahr sehe ich nicht zwangsweise eine Gefährdung.
Dr. Schnelzer: Doch eine Bindung in der Krippe unterscheidet sich von der an die Mutter. In den ersten Lebensjahren ist die Mutter durch nichts und niemanden wirklich zu ersetzen. Die Erzieherin ist emotional nicht immer verfügbar. Sie muss sich um mehrere Kinder kümmern, sie fehlt auch einmal wegen Urlaub und Krankheit. Und es ist eine professionelle Beziehung. In der Krippe ist der Umgang distanzierter und es gibt so weniger Gelegenheit für lange und intime Momente als bei der Mutter.
Edith Schmitz: Ich finde, es sollte keine Konkurrenzsituation zur Mutter aufgebaut werden: Familien kommen in die Einrichtung, weil sie für bestimmte Stunden aus bestimmten Gründen eine Entlastung für sich oder ihr Kind wollen. Und 99 Prozent aller Eltern überlegen sich das und wollen das, weil sie denken, ihr Kind profitiert davon oder weil sie selbst überlastet sind. Familien haben vielfältige Probleme. Und eine Mutter, die vier oder fünf eigene - vielleicht auch schwierige - Kinder hat oder die selbst Probleme hat, wird sich auch mit dem Kleinkind nicht den ganzen Tag beschäftigen. Da können Krippen für Eltern wie Kinder als Ergänzung hilfreich sein. Unsere Aufgabe ist es, Qualität und auch Persönlichkeiten zur Verfügung zu stellen, die Bindung ermöglichen.
Wie sind Krippen denn für die Kinder hilfreich?
Edith Schmitz: Untersuchungen zeigen, dass Krippenkinder sehr viel früher selbstständig sind als andere Kinder, ihre soziale Kompetenz entwickelter ist und sie auch bildungsmäßig profitieren, natürlich immer auf der Grundlage von emotionaler Sicherheit. Sie kennen oft zum Beispiel früher die Farben, kennen Techniken, Liedgut, haben einen größeren Wortschatz oder wissen früher, wie man mit anderen Kindern Kontakt aufnimmt.
Dr. Schnelzer: Aber diese Bildung ist aufholbar, die emotionale Entwicklung hingegen nicht. Und man weiß aus dem psychotherapeutischen Bereich, dass der Hase fast immer in der frühen Kindheit im Pfeffer sitzt, wenn es um Selbstwertprobleme, Persönlichkeitsstörungen, Aggressivität oder um das unbestimmte Gefühl des Nichtbeachtetseins, des Verlassensseins geht. Insofern liegt der Trend zu mehr Kindertagesstätten nicht auf einer Linie mit den Erkenntnissen der Psychologie. Nur bei psychisch kranken oder vernachlässigenden Eltern, wo vielleicht sogar Gewalt im Spiel ist, ist es anders. Bei solchen Familien ist in der Tat in jedem Kindesalter die außerfamiliäre Betreuung besser.
Edith Schmitz: Ich finde, Eltern dürfen nicht idealisiert werden. Natürlich ist eine liebevolle Familie ideal für die Entwicklung eines Kindes. Doch ich höre aus den Kindertageseinrichtungen auch viel von unterschiedlich belasteten Eltern, die nicht berufstätig sind und die auch dankbar sind, dass sie für einige Stunden des Tages Unterstützung in der Erziehung finden. Ob diese nicht eine weniger gute Betreuungslösung suchen würden, wenn es keine gute Krippe gäbe? Würden Sie denn sagen, dass es emotionale Sicherheit in der Krippe nicht geben kann?
Dr. Schnelzer: Nein, aber die Qualität der Bindung zu einer zugewandten und fürsorglichen Mutter ist deutlich tiefer.
Edith Schmitz: Wissenschaftliche Befunde zeigen aber auch, dass Kinder bis zum dritten Lebensjahr die Möglichkeit haben, zu bis zu drei Personen eine Beziehung aufzunehmen. Warum kann die Ergänzung zu Mutter und Vater nicht die Krippenerzieherin sein? Voraussetzung ist, dass sich diese als Person zur Verfügung stellt, nicht distanziert ist und weiß, was eine Bindung ist und wie man sie aufbaut.
Dr. Schnelzer: Ich sage ja nicht, dass es keine Kinderkrippe geben soll, sondern nur: nicht zu früh, nicht zu viel und nicht zu lang. Und die vulnerable (für innere Verletzungen anfällige) Zeit bis eineinhalb Jahre sollte überwiegend in der Familie stattfinden. Sie sagen, viele Eltern wollen diese Betreuung für ihr Kind. Ich sage: Viele Eltern wollen sie nicht. Es gibt eine Untersuchung, nach der 70 Prozent der Mütter ihre kleinen Kinder selbst betreuen würden, wenn sie es sich leisten könnten. Und wenn ihnen versprochen würde, dass man ihnen den Arbeitsplatz freihält, wären es sogar 78 Prozent. Ich bin daher auch weit davon entfernt zu sagen, dass Eltern ihre Kinder leichtfertig in eine Krippe geben. Die Politik und die sogenannte freie Wirtschaft haben eine Atmosphäre entstehen lassen, in der Erwerbsarbeit vergötzt wird. Und wenn jemand seine Kinder selbst betreut, wird das als "Versauern zu Hause" verächtlich gemacht.
Frau Schmitz, wäre eine Krippenbetreuung für ein einjähriges Kind aus ihrer Sicht bis 16 Uhr nachmittags partout schlecht?
Edith Schmitz: Das kann man nicht pauschal sagen. Es kommt, wie gesagt, auf das einzelne Kind an und darauf, wie viel Zeit es morgens bei der Übergabe hat, wie es eingewöhnt ist, welche Erzieherinnen es vorfindet, ob es Bindungen aufbauen kann. Ich persönlich würde ein eineinhalbjähriges Kind auch nicht zehn Stunden in der Krippe betreuen lassen. Ich hätte aber nichts dagegen, dass es vier Stunden dort wäre. Doch wir erleben auch Kinder, die nachmittags noch in der Krippe quietschfidel sind, sich freuen - man sieht es ja auch an ihrem Gesichtsausdruck.
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