Menschen mit Visionen
Man schreibt das Jahr 1921. Es war der 29. September, das Wetter war trocken und heiter und die Eichstätter feierten ihr jährliches Volksfest. Zeitgleich waren in der Aula fast 400 Priester, Laien und Verbandsvorsitzende versammelt, um über die Zukunft der Menschen zu diskutieren. Denn trotz der ausgelassenen Stimmung auf den Straßen, die durch die Fenster in den Saal drang, war die Not in der Diözese groß. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und den hohen Reparationszahlungen an die Siegermächte herrschte in Deutschland rasende Inflation. Auf der Suche nach Arbeit drang die Landbevölkerung zunehmend in die Städte, wo große Wohnungsnot und Armut bestand. Mit Besorgnis registrierten die Seelsorger der Stadtpfarreien, wie sich Orientierungslosigkeit unter der Jugend verbreitete, so auch der Ingolstädter Benefiziat Joseph Pemsel (1861-1945) von St. Moritz. Traditionelle Werte, religiöse Bindungen und familiärer Rückhalt verloren in der Anonymität der Stadt an Bedeutung.
Vorreiter Pfarrer Seitz
Der Wachenzeller Pfarrer Dr. Joseph Seitz (1876-1924), ein Mann mit großen Visionen, erkannte eine andere tiefgreifende Ursache des Elends. Auf dem Land mangelte es an medizinischer Versorgung. Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit waren hoch und Infektionskrankheiten wie Tuberkulose verbreiteten sich rasch. Hautnah erlebte er, wie schwer es Familien traf, wenn Mutter oder Vater durch Krankheit oder Tod für den Familienunterhalt ausfielen. Dabei hätte medizinische Hilfe viel Leid verhindern können. Deshalb kämpfte er für den Aufbau einer flächendeckenden Landkrankenpflege. Ohne übergeordnete Organisationsstrukturen war dies nicht zu erreichen.
Vorbild Deutscher Caritasverband
Interessiert beobachtete Pfarrer Seitz die Entwicklung im katholischen Verbandswesen, wie sie Prälat Lorenz Werthmann (1858-1921) seit 1897 mit der Gründung des „Charitasverbandes für das katholische Deutschland“ aufzeichnete. Eine Dachorganisation, die alle caritativen Einrichtungen umfasste und gegenüber dem Staat handlungsfähig war, konnte die notwendige Tragfähigkeit entwickeln, die Not nachhaltig zu lindern. Als die Deutschen Bischöfe im August 1916 den Caritasverband als „die legitime Zusammenfassung der Diözesanverbände zu einer einheitlichen Organisation“ (Sitzungsprotokoll) anerkannten, war im Bistum Eichstätt der Weg frei für eine solche Verbandstruktur.
Idee bei rundem Tisch
In Domkapitular Karl Vogt (1867-1925) fand Pfarrer Seitz einen tatkräftigen Verbündeten. Gemeinsam organisierten sie für den 12. August 1918 einen runden Tisch aus verschiedenen Klerikern und Laienvertretern, um die Landkrankenpflege, die Säuglings- und Tuberkulosefürsorge flächendeckend zu organisieren. Intensive Gespräche mündeten in die Idee, einen Caritasverband für die Diözese Eichstätt aufzubauen. Deshalb beauftragte die Runde Domkapitular Vogt, am 2. und 3. September 1918 einen „Charitastag“ in Eichstätt zu organisieren. Am Ende dieses Treffens wurde der Caritasverband für die Diözese Eichstätt gegründet. Unter den 72 Mitgliedern des ersten Sitzungstages und den 48 Mitgliedern des zweiten Sitzungstages waren nicht nur Geistliche aus der gesamten Diözese, sondern auch Laienvertreter aus sieben caritativen Vereinen, wie beispielsweise dem Katholischen Frauenbund Eichstätt und Monheim.
Gründung spontan vorbereitet
„Lichtvolle Referate“, wie es im Protokollbuch heißt, stimmten die Versammlung auf die Gründung ein. Benefiziat Joseph Pemsel, der in den Folgejahren das Ingolstädter Caritasbüro engagiert aufbaute, stellte das „Normalstatut“ des Freiburger Caritasverbandes vor und Domkapitular Vogt plädierte nachdrücklich dafür, dass sich die katholische Wohltätigkeit organisieren müsse. Das „vielgestaltige Elend unserer Zeit“, wie er sagte, und „die zahlreichen Hilfsquellen, die die staatliche, gemeindliche und private Wohlfahrtspflege eröffnen“, zwingen die Katholische Kirche dazu. Nur über einen Verband könnten diese Hilfeleistungen für die katholische Bevölkerung nutzbar gemacht werden, „weil niemand die Armen zu diesen Quellen hinführt“. Nach der Abschlussdiskussion folgte, wie der Berichterstatter für den Eichstätter Volkszeitung (5. September 1918) formulierte, „die Krönung der ganzen Veranstaltung: Das Organ, das allein alle die Aufgaben der christlichen Liebestätigkeit lösen kann, wurde ins Leben gerufen: Der Diözesan-Caritasverband“.
Große Euphorie am Caritastag 1921
Drei Jahre später, im Jahr 1921, waren Seelsorger und Laienverbände wieder zum Caritastag nach Eichstätt geladen. Die Anfangsbegeisterung wuchs, denn inzwischen hatten sich Caritasausschüsse gebildet, waren Landkrankenstationen eingerichtet worden, und die Beratungsanfragen in den Caritasbüros in Eichstätt und Ingolstadt stiegen. Aufgrund hoher Spenden aus Amerika und dem Vatikan konnte der Verband zudem bedeutende Summen an caritative Einrichtungen verteilen. Von Fachreferaten inspiriert, von der Diskussion in Begeisterung versetzt und der Gemeinschaft beflügelt, schloss das Sitzungsprotokoll des zweiten Caritastages 1921 mit den Worten: „Draußen suchte das Volk Gesundung im rauschenden Jubeln des Volksfestes und findet sie nicht und hier wird das Fundament der Genesung betreten und die Quelle der Gesundung in den Herzen eröffnet und mit Gottes Hilfe erreicht. Möge von diesen Sonnentagen der Karitas viel Licht, Leben und Wärme hinausstrahlen in unsere Diözese.“