Verzweiflung wird Kunst
Mit dem dicken rotfarbenen Filzstift klopft Haci Sami Yaman im schnellen Rhythmus Punkte entlang des äußeren Papierrandes. Zuhause lässt er sich dabei gern von elektronischer Musik leiten. Hier, im Offenen Atelier in der Großen Hamburger Straße des St. Hedwig-Krankenhauses verzichtet der 45-Jährige aus Rücksicht auf die anderen Künstler darauf. Er lässt die Führung des Stifts von seinem Gefühl leiten. Haci Sami Yaman ist blind.
Am Waschbecken steht eine zierliche Dame, pult mit ihrem Zeigefinger am Siebeinsatz des Abflusses rum und zeigt schließlich mit strahlenden Augen ihre wertvolle Beute: ein grüner, klebriger Farbklecks. Mai Lef nennt sich die 71-Jährige. Sie schaut zwischen Farbflaschen, Abfalleimern und Regalen, was sie für ihre Kunst gebrauchen kann. "Ich nenne mich gern Müllkünstlerin", sagt sie mit holländischem Akzent und lacht. So sei es der Zufall, der ihre Kunst bestimme. "Es ist Zufall, was ich finde und was ich daraus mache. So wie in meinem Leben."
Seit etwa drei Jahren kommt sie ins Offene Atelier. Nach dem Tod ihres Partners ging es ihr schlecht. Sie ließ sich psychologisch behandeln und fand darüber den Weg hierher. Mit einem Künstlervater aufgewachsen war ihr die bildende Kunst immer nah. "Aber ich hatte nie große Ambitionen." Im Atelier ist sie nun fasziniert von den vielfältigen Materialen, arbeitet vor allem an Collagen, Büchlein und Magazinen. "Ich will Zuhause nichts Großes an der Wand haben. Ich fertige nur kleine Dinge und sammel die hier in einer Mappe."
In dem hohen lichtdurchfluteten Raum mit dem ornamentverzierten Fliesenboden arbeiten in der Woche rund 60 Kunstschaffende mit Psychiatrie-Erfahrung unter Anleitung der bildenden Künstlerin Paula Schmidt-Dudek. Zu einem Termin finden etwa acht Künstler Platz, sich zu entfalten, mit Farben, Materialen und Stilen zu experimentieren. "Ich schaue, wo die Vorlieben und Talente des Einzelnen liegen, um diese dann zu fördern", erklärt Paula Schmidt-Dudek. Es geht um die Kunst, nicht um die Krankheit.
"Ich finde unser Atelier einmalig", sagt Haci Sami Yaman. "Einmalig, weil die Hilfsbereitschaft und das Verständnis aller für die eigene Behinderung hilft, Vertrauen zu finden." Der Künstler legt den roten Stift zur Seite und greift sich den grünen. Seine Finger der linken Hand halten dabei das strukturierte Papier an der Stelle, wo er mit den Punkten aufgehört hat, fest. "So weiß ich, wo ich weiter machen muss." Manchmal ritze er auch mit dem Fingernagel in die Blattstruktur eine winzige Markierung. Haci Sami Yaman scheint sein Gegenüber anzuschauen und redet über seine Kunst, während der Stift in der Hand nun grüne Wellenlinien zeichnet.
Auf dem Tisch liegen zwei fast vollendete Werke. Unzählbar viele Punkte und Linien bilden auf blau-rotschattiertem Untergrund verschiedene Tiefen, Dynamiken und Formen. Der Künstler ist überzeugt: "Gedanken formen mit. Gute Gedanken führen zu guten Taten." Oder zu einem "schönen" Bild.
"Am besten male ich, wenn ich verschwommen sehe." Blind zu sein und trotzdem manchmal ein wenig zu sehen, ist für Außenstehende häufig schwer nachzuvollziehen. Sich ständig erklären müssen, strenge immens an. Selbst in einer psychiatrischen Klinik, in der er einst war, fehlte Verständnis des behandelnden Personals. Aufbrausend und verzweifelt zugleich habe er nach Stift und Papier verlangt. "Dann male ich Euch halt, wie ich sehe, habe ich denen gesagt. Die Reaktion hat mich erstaunt. Ärzte und Ergotherapeutin meinten, das sei richtig gut."
Was aus der Verzweiflung entstand, um sich auszudrücken, wo ihm die Worte fehlten, machten aus ihm schließlich einen bildenden Künstler. Und die Kunst habe ihm sein Leben gerettet. "Wenn ich zu viel Druck verspüre, werde ich extrem unruhig und neige zur Selbstzerstörung. Früher habe ich unter anderem aufgehört zu essen, heute greife ich zu Stift und Papier. Malen lässt mich ruhig werden."
Auch wenn es dazu keine Studie gebe, verhindere das Angebot des Offenen Ateliers Krankenhausaufenthalte, sagt die Leiterin der Therapeutischen Dienste des Alexianer St. Hedwig-Krankenhauses, Mechthild Niemann-Mirmehdi. "Das Offene Atelier ist keine Psychotherapie, aber es ist Handwerk und Aufgabe", erklärt sie. Es gibt Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die gerade recht gefestigt sind, in gewisser Weise Sinn und Struktur für ihr Leben zurück. "Sie haben hier ihre eigene Oase."
Einen anderen Ansatz verfolgt die sogenannte psychodynamisch orientierte Kunsttherapie, in der das Malen oder plastische Gestalten eine Art Türöffner in der Zusammenarbeit mit schwer Erkrankten ist.
Manchmal sind Stift und Zettel der einzige Weg, mit dem Patienten überhaupt in eine Kommunikation einzusteigen, weiß Mechthild Niemann-Mirmehdi. "In einem ersten Schritt geht es dann vor allem darum, dass derjenige zur Ruhe kommt." Über das Bild versucht der Kunsttherapeut schließlich mit dem
Patienten ins Gespräch zu kommen, zu spiegeln, was er sieht. "Es geht nicht darum zu deuten, zu analysieren", betont die Fachfrau und warnt zugleich vor Klischees: "Es ist nicht immer so, dass Menschen, denen es schlecht geht nur dunkle Farben wählen." Es könne zum Beispiel sein, dass ein Patient nur Motive ohne Menschen malt. Dann wäre eine mögliche Aussage des Therapeuten: "Sie malen immer Bilder ohne Menschen. Fehlen ihnen die?" So kann die Reflexion über das Bild direkt zu den "Schmerzen" des Patienten führen, muss es aber nicht zwangsweise. Der themenoffene Austausch und die wertfreie Auseinandersetzung mit dem Kunstobjekt seien das Entscheidende.
Neben der Pharma- und Psychotherapie sei die Kunsttherapie eine stabilisierende, ergänzende Säule. "Das gilt für alle kreativen Mittel", sagt Mechthild Niemann-Mirmehdi. "Für die einen ist es der Tanz, für die anderen die
Musik oder eben die Kunst."
Text: Christina Bustorf
Kontakt
St. Hedwig-Krankenhaus
Leitung Therapeutische Dienste
Mechthild Niemann-Mirmehdi
Telefon: 030 / 23 11 - 29 08
m.niemann-mirmehdi@charite.de