Kolumbien - ein vergessenes Land
Bunt bemalte hütten neben modernen Hochhäusern, quirlige Betriebsamkeit - Eselkarren inmitten von hektischem Autoverkehr in der Acht-Millionen-Metropole Bogotá - das sind die ersten Eindrücke auf der Dialogreise nach Kolumbien. Organisiert von Caritas international, ist eine deutsche Delegation aus Caritas international und Kirche unterwegs in dem südamerikanischen Land. In acht Tagen sollen die internationalen Aktivitäten der Caritas in Kolumbien hautnah in Augenschein genommen und die Arbeit der lokalen Caritas kennengelernt werden.
In Kolumbien herrscht seit 50 Jahren Bürgerkrieg. 200.000 Menschen sind den Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen. Viele Menschen leben hier in großer Armut und Not. Hin und her geschoben zwischen mächtigen Interessengruppen, Paramilitärs, Guerillas und Politikern. Die katholische Kirche und der Glauben spielen in Kolumbien eine zentrale Rolle. 90 Prozent sind katholisch. Viele soziale Hilfen werden von der "Pastoral Social", so nennt sich die Caritas in Kolumbien, organisiert. Die Pastoral Social gehört zur kolumbianischen Bischofskonferenz. Staat, Guerillas und Paramilitärs respektieren die Vertreter der Kirche. Nur über die Pfarrer vor Ort ist es der Caritas möglich, Hilfe zu leisten.
"Schon mit sechs Jahren beginnt für viele Kinder der Drogenkonsum", so die Koordinatorin Oriana von Procrear, einer Partnerorganisation von Caritas international. Das Projekt befindet sich im Stadtteil Santa Fé mitten in Bogotá. Prostitution, Drogenhandel und Kleinkriminalität bestimmen hier den Alltag. Die Straßen sind staubig, viele nicht asphaltiert und mit Schlaglöchern übersät. An manchen Stellen wird Müll einfach am Straßenrand abgeladen. Menschen wühlen darin und suchen Verwertbares. "Wir versuchen, Jugendliche von der Straße zu holen. Zusammen mit den Menschen aus dem Stadtteil werden gemeinsame Aktivitäten organisiert, um Beziehung untereinander herzustellen - die beste Prävention gegen Gewalt", sagt Oriana. Ein Haus mit einem Drop-in Center wurde mit Unterstützung von Caritas international eingerichtet. Es dient als Anlaufstelle für alle hilfsbedürftigen Menschen aus dem Stadtteil. Procrear bildet so genannte "Aktive" aus den Zielgruppen aus. Diese helfen dann mit, das Verhalten im Stadtteil positiv zu verändern. Eine berufliche Ausbildung als Ausstieg aus der Prostitution bietet der Orden der Schwestern der Anbetung, Hermanas Adoratrices. Sie haben ihre Ausbildungsstätten in einem früheren Kloster in Bogotá untergebracht. Hier können Frauen und Mädchen Näherinnen, Köchinnen, Bäckerinnen oder Kosmetikerinnen werden. Sie lernen, mit Computern umzugehen oder Schmuck herzustellen. Eine Krankenstation, eine Tagesstätte für 200 Kinder und eine Textilfabrik gehören zu der Einrichtung der Schwestern in Bogotá. Alles ist straff organisiert, aber man spürt immer die Zuwendung und Annahme, die die Schwestern den Frauen entgegenbringen."Die psychische und spirituelle Begleitung ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Angebote. Wir moralisieren und beurteilen niemals und schließen niemanden aus", erklärt die Provinzoberin für Kolumbien und Ecuador, Maria Martinez Perez, die Grundprinzipien des Ordens. 300 Auszubildende befinden sich bei den Schwestern, die die Frauen auch bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt unterstützen."Meine eigene Mutter nannte mich Unglück. Mit sieben Jahren hat sie mich aus dem Haus geworfen. Ich lebte neben dem Markt von Lebensmittelresten", erzählt die heute 34-jährige Blanca. Ihr Leben mit Drogen und Prostitution konnte sie mithilfe der Schwestern hinter sich lassen.
Die nächste Station der Reise ist das 1100 km entfernte Barranquilla in der Karibik. Hier werden Projekte mit Überschwemmungsopfern besucht. In Manatí stand das Hochwasser bei der letzten großen Überschwemmungskatastrophe vor zwei Jahren bis zu vier Meter hoch. Noch heute sind überall Ruinen und Wasserschäden zu sehen. Im Übergangslager "El Limon" leben die Menschen, die alles verloren haben, in notdürftigen Hütten. Sie sind aus Plastikplanen, Holz und Zinkblechen zusammengebaut. Der Lehmboden in den Häusern verwandelt sich bei Regen in Matsch. Drinnen ist es bis zu 42 Grad heiß. Es gibt weder Toiletten noch Abwasser. Viele Schatten spendende Bäume sind abgestorben, da das Hochwasser nur langsam zurückgeht. Moskitos und Giftschlangen plagen die Menschen. "Wir warten verzweifelt auf die zugesagte staatliche Hilfe", sagt eine junge Frau, die mit Schweißperlen auf der Stirn auf dem Weg steht. Das Leben im Provisorium zerrt an den Nerven. Eigentlich war versprochen, dass die Menschen nur sechs Monate lang in den Notunterkünften bleiben müssen. Nun sind schon zwei Jahre daraus geworden, das dritte Weihnachtsfest in den Übergangsunterkünften. Bessere Aussichten haben die Bewohner von San Cristóbal. Der Ort liegt in der Diözese Cartagena, die zu 50 Prozent überschwemmt war. Caritas international fördert hier den Aufbau einer dauerhaften Siedlung mit kleinen Steinhäusern. Nur 750 Euro kostet das Material pro Haus. 100 Wohnungen sollen im Selbstbau bis Ende 2013 entstehen. Die Kommune stellt das Gelände und sorgt für Wasser, Abwasser und Strom. Die Zementsteine werden von den Bewohnern der Siedlung in Eigenarbeit hergestellt. Alle Häuser erhalten ein solides Fundament. Wegen der großen Hitze tagsüber beginnen die Bewohner von San Cristóbal bereits ab zwei Uhr morgens mit der Arbeit. Beim Selbstbau der neuen Behausungen erwerben die Menschen Wissen, das sie später befähigt, als Maurer oder Elektriker tätig zu werden.
Der dritte Schwerpunkt der Reise sind Projektbesuche bei Vertriebenen und Gewalt¬opfern. "In 20 Minuten seid ihr weg", sagt ein Maskierter, der José* (Name geändert) einen Revolver an die Stirn hält. José verlässt Hals über Kopf mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern sein Land. Alles, was er besitzt, ist ein Zettel, den er aus seiner Brieftasche kramt. Es ist eine behördliche Bestätigung, dass José einen Antrag auf Entschädigung gestellt hat. Er hat sich irgendwie über 500 km nach Cartagena durchgeschlagen und ist, wie 26 andere Familien, im Sleep-in der Caritas gelandet. Hier gibt es einen Schlafplatz und etwas zu essen. Außerdem psychosoziale Betreuung und rechtlichen Beistand. Bei einem Treffen mit dem Erzbischof von Cartagena, Jorge Jimenez, geht es um die Situation von Vertriebenen. Einige Sprecher von Betroffenen aus dem Raum Riohacha und Santa Marta, unweit der Grenze zu Venezuela, sind dazu angereist. Die Bevölkerung wird dort von kleinen paramilitärischen Banden terrorisiert. Im Nordosten Kolumbiens liegt auch die größte Steinkohlemine Lateinamerikas, El Cerrejón. Der Bergbau ist eine Entwicklungslokomotive Kolumbiens, die große Teile des Regenwaldes überrollt. Kolumbien gehört zu den wichtigsten Kohlelieferanten der deutschen Stromversorger. Die Mine steht auch für schwerste Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen. Kolumbien ist bis heute ein Land mit fehlender Rechtsstaatlichkeit, in dem an vielen Orten das Faustrecht gilt. "Als die Arbeit mit der Pastoral Social begann, war es wie neu geboren zu werden", sagt Carlos, ein Vertreter der Viva, einem indigenen Volk, bei dem viele weder lesen noch schreiben können. Bis heute sterben dort Kleinkinder aufgrund der schlechten Ernährungslage. Viele der Vertriebenen landen in den Slums der Großstädte. So wie im Barrio El Pozón, einem Stadtteil Cartagenas, in dem 50.000 Menschen leben. Die Wege zwischen den Bretterverschlägen und den Hütten sind hier schlammig und von Abfall gesäumt. In El Pozón gibt es zahlreiche Jugendbanden und viel Vandalismus. Jeder Laden zahlt Schutzgeld. Irgendwie funktioniert dennoch eine einfache Infrastruktur mit 18 Schulen, einem Krankenhaus, drei Pfarreien und einem Transportsystem. Trotz der schwierigsten Lebensbedingungen haben die Menschen den Lebensmut nicht aufgegeben. Auf die Frage, wie die Helfer mit diesen ausweglos erscheinenden Lebensbedingungen umgehen, sagt Irene von der diözesanen Pastoral Social: "Wenn wir nicht bei den Menschen sind, wer dann?"