Die neuen Nachbarn
Ob eine Dame von der Zeitung beim Gespräch zuhören dürfe, fragt der Dolmetscher die Ratsuchende. Die Frau im langen Rock, das Haar mit einem Tuch am Hinterkopf geknotet, überlegt. Und antwortet dann knapp: "Es ist etwas Persönliches." Sie meint: Keine Presse. "Das ist okay", wendet Rainer Stark ein. Der 57-Jährige trägt eine randlose Brille, seine blonden Haare fallen ihm bis auf die Schultern. Stark ist Sozialarbeiter im Caritas-Kiezbüro an der Harzer Straße – in einem Gebäudekomplex, der bereits vor gut anderthalb Jahren für Schlagzeilen sorgte.
Entwicklung zum Vorzeigeprojekt
In den acht Mietshäusern wohnten schon damals überwiegend Roma-Familien aus Osteuropa. Der Hausbesitzer ließ das Anwesen verwahrlosen, duldete gar einen illegalen Handel mit Untermietverträgen. Die Boulevardzeitungen berichteten seinerzeit von Kindern, die dort zwischen Müllbergen spielten – umzingelt von Ratten.
Wer heute den Eingang Nr. 65 passiert, gelangt auf einen gepflegten Innenhof. Eine Frau im Blumenrock kehrt das Pflaster, aus einigen Fenstern wehen weiße Spitzengardinen. Das Haus hat sich gewandelt. Es gilt als Vorzeigeprojekt, seitdem die katholische Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft es vor gut einem Jahr kaufte, sanierte und hier ein soziales Konzept für die Mieter etablierte. Dazu gehören Kinderbetreuung, Deutschunterricht, kulturelle Angebote. Auch eine Beratungsstelle der Caritas zog Anfang August ein. Im Erdgeschoss zum Innenhof liegt das Kiezbüro, an dessen Tür mehrere Zettel kleben. Informationen in rumänischer Sprache.
Die Nachbarn einbeziehen
"Wir sind kein reines Migrationsprojekt, sondern ein Kiezprojekt. Wir sagen allen Anwohnern hier: Wenn Sie Probleme haben, kommen Sie zu uns", betont Rainer Stark. Vor ihm auf dem Schreibtisch surrt leise der PC, daneben dampft eine Tasse heißer Orange-Ingwer-Tee. Das kleine Büro hier ist nur provisorisch: Bald will die Caritas eigene Räume beziehen, die direkt zur Straße liegen und einen separaten Eingang haben. Stark hofft, dass dann die Nachbarschaft sich traut, hineinzukommen. Für die Beratung, aber auch, um die Menschen hier besser kennenzulernen.
Vorurteile helfen niemandem
Wenn der Sozialarbeiter die Nachbarn auf der Straße trifft, grüßt er und stellt sich vor. So kommt er mit ihnen ins Gespräch und erfährt, was sie über die Roma denken. Häufig bahnen sich dann Unmut und Ärger ihren Weg, manchmal auch Hass: "Alles Schlampen, die Roma tun immer nur so", schimpfte mal einer. "Die halten sich nicht an die Regeln, die wir hier gewohnt sind", sagten andere. Zu viele Kinder, zu laut, zu fremd. Ob er manche Vorbehalte verstehen könne? Stark nickt. "Wenn plötzlich 500 Roma auf der Ecke wohnen, ist alles irgendwie anders. Sie stehen oft in Trauben vor den Eingängen, sprechen kein Deutsch. Eine Rentnerin empfindet das sicherlich als bedrohliche Situation." Wie viel die Deutschen von den Sinti und Roma halten, belegt eine Infratest-Umfrage aus dem Jahr 2002: Roma in der Nachbarschaft? 58 Prozent der Bevölkerung lehnen das ab. Die Wahrnehmung der "Zigeuner" ist hierzulande stark von Klischees bestimmt: Im besten Fall handeln sie von einem armen, aber fröhlichen Wandervolk, das gern ums Lagerfeuer tanzt und musiziert. Im schlechtesten Fall um Landstreicher, die stehlen, betrügen und betteln. Fehlendes Wissen und uralte Vorurteile fördern ein Umfeld von Ignoranz und Ausgrenzung, das viele Roma aus Osteuropa bereits kennen.
Die Anzahl der Rumänen und Bulgaren, die in deutsche Großstädte ziehen, wächst beständig seit dem Beitritt ihrer Heimatländer zur Europäischen Union. Allein in Berlin sind etwa 20.000 von ihnen gemeldet, vorwiegend stammen sie aus der Volksgruppe der Roma. Immer mehr geben ihr altes Leben auf, in dem sie unter Armut und Diskriminierung leiden. Sie verabschieden sich von ihrer osteuropäischen Heimat, um wenig später in den Berichten der hiesigen Tageszeitungen wieder aufzutauchen: Da geht es dann um Roma, die im Görlitzer Park auf Matratzen kampieren. Um Kinder, die nicht zur Schule gehen. Oder um Jungen, die zum Ärger der Autofahrer Windschutzscheiben gegen Geld einseifen wollen.
Schwierige Bedingungen
Wovon die Roma in der Harzer Straße leben? Nicht vom Betteln, ist Stark überzeugt: "Das sind andere." Die Menschen hier empfindet er als "sehr nett und zugänglich". Viele seien Pfingstler, denen man ihre christliche Gesinnung anmerke. Doch auch sie haben Probleme: Die meisten sprechen kaum Deutsch, haben keine richtige Schulbildung. Wer ins Caritas-Kiezbüro kommt, braucht zunächst Hilfe, um sich im "deutschen System" zurechtzufinden. Sie haben Fragen zum Bankkonto, zur Krankenversicherung, zur Behördenpost. "Viele haben solche Angst vor den deutschen Behörden, dass sie deswegen die Post nicht öffnen", erzählt Stark. Hauptsächlich aber drehe es sich in der Beratung um Schulden. Die Roma aus Osteuropa stehen vor dem Problem, dass der deutsche Arbeitsmarkt für sie noch bis Ende 2013 beschränkt ist. Bis dahin dürfen sie selbstständig arbeiten und ein Gewerbe anmelden – was viele auch tun, bestätigt der Sozialarbeiter. "Sie geben sich Mühe, Geld über ihre Selbstständigkeit zu verdienen." Die Frauen gingen putzen, die Männer verdingten sich als Handwerker. "Aber es stimmt schon, dass viele vom Kindergeld leben", fügt er nach einer Pause hinzu. Manchmal säßen bei ihm Familien mit bis zu zehn Kindern.
Im Wartezimmer vor dem Kiezbüro ist es heute ruhig. Ein stämmiger Mann sitzt auf einem roten Plastikstuhl, hat die Ellenbogen auf die Knie gestützt und atmet schwer aus. Es riecht nach Bier. "Sieht blöd aus, ne?", fragt er und deutet auf sein blutunterlaufendes Auge. Und dann erzählt er, dass er bereits seit 1999 in dem Haus wohne – also lange bevor die Roma einzogen. Was er über die neuen Nachbarn denke? "Zu wievielt die in einer Einzimmerwohnung leben. Aber vielleicht brauchen die auch nicht mehr?" Außerdem wundert er sich über die Kinder, die noch spät abends auf der Straße unterwegs seien. "Die laufen da rum und schreien. Und die Eltern interessiert’s nicht. Was ist das für ’ne Erziehung?"
Viele Kinder aus der Harzer Straße gehen in die benachbarte Hans-Fallada-Schule. 100 der 400 Grundschulkinder dort sind Roma. Schätzungen zufolge kommen allein in Neukölln jeden Monat etwa 25 Kinder hinzu, die kein oder nur wenig Deutsch verstehen. Soziale Anbieter sind hier gefordert, findet Caritas-Mitarbeiter Stark. Er hat mit den Verantwortlichen der Kita nebenan und mit der Schule geredet. Ein "Vernetzer" will er sein und gemeinsam mit den anderen überlegen, welche Angebote man machen kann - nicht nur für die Roma, sondern für alle Anwohner im Kiez.
Ob die Roma gute Chancen hätten, sich hier zu integrieren? "Eigentlich ist es kontraproduktiv, dass sie alle auf einem Punkt wohnen", sagt er. "Solange sie nur unter sich bleiben und ihre Sprache und Kultur ausschließlich leben, ist der Integrationsgedanke erschwert."