Macht abgeben an Menschen mit Behinderung
Schirmmütze auf dem Kopf, den Sozialhelden-Button an der Brust: Raúl Krauthausen bugsiert seinen 150 Kilogramm schweren Elektrorollstuhl in ein stufenloses Café am Landwehrkanal. Keiner glotzt oder wundert sich – der kleinwüchsige Aktivist ist hier Stammgast. "Warum schreiben immer nur Nichtbehinderte über Behinderte?", schießt er los und hat sogleich mit einem Satz umrissen, was er unter wirklicher Teilhabe versteht: "Wir wollen nicht, dass über, sondern dass mit uns geredet wird."
Das fordert er nicht nur, dafür kämpft der Berliner seit mehr als 15 Jahren. Vor allem mit Worten. Leidmedien.de heißt eine seiner Kampagnen. Dieser Onlineauftritt verrät Journalisten, wie es gelingt, vorurteilsfrei über Menschen mit Behinderung zu schreiben. "Wir wollen keine Sprachpolizei sein, sondern auf unbedachte Wortwahl hinweisen", sagt der 35-Jährige und erklärt, was er meint: "Ich bin nicht behindert, ich werde behindert. Ich bin nicht an den Rollstuhl gefesselt, ich sitze darin."
Wider die Barrieren zwischen Nichtbehinderten und Behinderten
Mit solcher Aufklärungsarbeit will Raúl das Denken in den Köpfen ändern, so dass Barrieren zwischen Nichtbehinderten und Behinderten erst gar nicht entstehen. Erfreut beobachtet er, dass die junge Generation viel lockerer reagiert. Wenn Kinder fragten, warum er fahre und nicht laufe, hört er junge Eltern antworten: "Ich weiß auch nicht, was er hat, aber wir können ihn ja fragen." Diese unkomplizierte Offenheit gefällt dem Mann mit den Glasknochen.
Genauso liebt er Wortwitz, Humor – und "Ziemlich beste Freunde". Der Kinofilm habe viel bewegt, sagt Raúl, vor allem hätten die Deutschen endlich begriffen, dass man mit Behinderten auch lachen darf. Raúl grinst, rührt in seinem kalt gewordenen Latte Macchiato und sagt: "Ich bin eine Frohnatur, die an eine bessere Welt glaubt." Und diese gestaltet.
Erfolgreiche Sozialhelden
Das Aktivisten-Abenteuer begann vor elf Jahren, als Raúl zusammen mit Freunden den gemeinnützigen Verein "Sozialhelden" gründete. Die Berliner Crew beobachtet, debattiert, analysiert und entwickelt aus ihrer Sicht gesellschaftlich notwendige Kampagnen. Eines der erfolgreichsten Projekte startete das inzwischen zehnköpfige Team im Jahr 2010: Wheelmap.org. Weltweit rufen die – bereits mehrfach ausgezeichneten – Sozialhelden jeden User auf, in einer interaktiven Karte barrierefreie Orte einzutragen.
600.000 Restaurants, Behörden, Museen und U-Bahn-Zugänge sind mittlerweile markiert, täglich kommen 300 neue Standorte hinzu. Wie wertvoll diese Informationen für Menschen sind, deren Mobilität eingeschränkt ist, weiß Raúl selbst am besten. Unerwartete Stufen, fehlende oder kaputte Aufzüge können ihn stundenlang lahmlegen.
Menschen mit Handicap Gehör verschaffen
Von seinem angeborenen Gendefekt lässt sich Raúl aber nicht ausbremsen. Zwar hat er nie laufen gelernt, dafür kann er gut reden. Dieses Talent bahnte ihm den Weg für eine Medienkarriere: Noch während seiner Schulzeit arbeitete Raúl als Radiomoderator, studierte dann Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Und je erfolgreicher die Sozialhelden agierten, umso öfter wurde der Aktivist in TV-Talkshows eingeladen.
"Dem Ego tut das natürlich gut", erklärt Raúl und schaut kurz auf sein aufleuchtendes Handy, "aber ich will nicht das Feigenblatt der Nation sein." Deshalb lässt er bei Interviewanfragen jetzt auch gerne mal anderen aus seinem Team den Vortritt. Raúl ist nicht der einzige Sozialheld. "Wenn wir eine neue Stelle ausschreiben, motivieren wir besonders Menschen mit Behinderung, sich zu bewerben. Und wenn es sie nicht gibt, muss man sie eben qualifizieren!" Sein Verein setzt um, was er von der Gesellschaft erwartet: Menschen mit Handicap Gehör und eine Perspektive zu verschaffen.
Dabei ist er sich sehr bewusst, wie privilegiert er aufgewachsen ist. Seine Eltern haben ihn von Anfang in jeder Hinsicht gefördert und unterstützt. Ohne diesen Rückhalt wäre vielleicht auch er ein "Sorgenkind" geblieben, das sich – wie so viele behinderte Menschen – nicht raustraut, gesteht Raúl und kommt zu dem Schluss: "Jeder kann ein Held sein, wenn er dazu in die Lage versetzt wird."
Inklusion stellt die Machtfrage
Tatsächlich schafft er, was einem beim ersten Händedruck schier unmöglich schien: Während des angeregten Gesprächs vergisst man zwischendurch, dass dieser Mann im Rollstuhl sitzt. Nicht der Körper zieht die Aufmerksamkeit auf sich, sondern die spannenden Perspektivwechsel, die mutigen Visionen, die mitreißende Begeisterung.
Bevor der in Lima geborene "Glasknochenbesitzer" mit dem Blick aufs Handy in kleinen Schlangenlinien durch die Grünanlage entlang des Kanalufers davonfährt, sagt er noch: "Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen." Denn er weiß, dass Inklusion die Machtfrage stellt: "Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand."