„Wir kümmern uns“
Es ist Dienstagmittag, normalerweise wäre jetzt eine Pause dran. Doch die ist für Susanne Gernecke heute noch nicht in Sicht. "Wir sind hier am Rotieren, es geht Schlag auf Schlag", so beschreibt die Quartiersmanagerin ihr aktuelles Arbeitspensum. An dem langen Tisch im Erdgeschoss des ehemaligen Pfarrheims der katholischen Kirchengemeinde "Maria, Königin des Friedens" im lippischen Augustdorf sitzen drei Frauen aus Bulgarien mit ihren kleinen Kindern. Briefe stapeln sich vor ihnen, die meisten von Behörden.
Seit Mai 2019 ist Susanne Gernecke im Auftrag des Caritasverbandes für den Kreis Lippe und die Stadt Bad Pyrmont an drei Tagen in der Woche Ansprechpartnerin für bulgarische Familien. "Schon Stunden vor der Öffnung des Quartiersbüros bildet sich eine lange Schlange vor der Tür. Die Leute kommen mit Taschen voller Briefe und Ordner, die wir dann hier erst einmal sortieren", berichtet die Sozialarbeiterin. Ohne Nadezhda Harizanova, eine bulgarische Deutschlehrerin, würde hier gar nichts laufen "Sie ist der Schlüssel zum Erfolg ", beschreibt Gernecke die wichtige Funktion ihrer Übersetzerin. "Wir klären alles, ob es das Jobcenter ist, ob es um Kindergärten, Arzttermine oder ähnliches geht, wir kümmern uns darum", fasst Nadezhda Harizanova die Aufgaben zusammen.
Als Quartiersmanagerin hat Susanne Gernecke vor allem die Situation von Familien im Blick. Angefangen von kinderärztlichen Untersuchungen bis hin zum Stromsparen reicht das Spektrum. Dabei ist viel Geduld gefragt: Häufig müsse man den Menschen die Dinge immer wieder von vorne erklären. Nicht gerade erleichtert wird die Eingliederung der Bulgaren in Augustdorf durch ihre Wohnsituation: Untergekommen sind sie am Ortsrand in ehemaligen Militärwohnungen. Umso wichtiger sind Susanne Gernecke besondere Angebote, die Begegnung mit Einheimischen ermöglichen. Wie das Kochprojekt, das engagierte Bürger und Institutionen ins Leben gerufen haben. Über siebzig Personen aus verschiedenen Kulturen nehmen regelmäßig daran teil. Bei jedem Treffen wird ein anderes landestypisches Essen gekocht. "Keiner versteht den anderen, aber das ist auch total egal", beschreibt Gernecke die Treffen. "Es macht immer Spaß und die Menschen kommen miteinander in Kontakt."
Bereits 2017 ist sie als Schulsozialarbeiterin mit bulgarischen Familien in Kontakt gekommen. An einer Augustdorfer Grundschule fing sie an, sich gemeinsam mit der dortigen Leiterin der Offenen Ganztagsschule (OGS) des Caritasverbandes, Kerstin Höhr, sowie mit Schulleiterin Ute Krause um die Probleme der bulgarischen Kinder zu kümmern: "Sie kannten keinen regelmäßigen Schulbesuch, sie kamen ohne Materialien oder ohne Frühstück zur Schule." Durch die geringen Sprachkenntnisse von Kindern und Eltern wurden zudem Einladungen zu Elternabenden oder Materiallisten nicht verstanden. "Man kann die tollste Sozialarbeit machen, aber ohne Sprache funktioniert nichts", betont Susanne Gernecke die Bedeutung einer professionellen Übersetzungshilfe in der Arbeit mit Zuwanderern aus Südosteuropa.
Menschen aus Bulgarien zieht es im Kreis Lippe nicht nur nach Augustdorf. Insbesondere die Stadt Horn-Bad Meinberg geriet in die Schlagzeilen, weil sich viele Einheimische durch die neuen Nachbarn gestört fühlten. Die massiven Bürgerproteste riefen selbst die Landespolitik auf den Plan. Für Susanne Gernecke ist hier professionelle Beratung und Unterstützung vonnöten. "Man muss die Menschen bei ihren ersten Schritten in Deutschland unterstützen, um Frust auf beiden Seiten zu vermeiden. Die deutsche Bürokratie ist schon für Einheimische oft schwer zu verstehen. Umso mehr, wenn Sprachbarrieren bestehen", sagt sie. Das koste sehr viel Geduld und Nerven. Und ohne ein Netzwerk engagierter Ehrenamtlicher funktioniere es nicht. Doch die Erfahrung zeige schon nach kurzer Zeit, dass sich das Engagement absolut lohne. Die Menschen seien für die Hilfe sehr dankbar und überaus bemüht, in Deutschland "alles richtig" zu machen.
Auch in Augustdorf sind Ehrenamtliche wichtige Kooperationspartner. Aber auch viele andere Institutionen packen mit ins Rad: die Kommune, das Jobcenter, das kommunale Integrationszentrum, der offene Jugendtreff HoT-Funkenflug in Trägerschaft des Jugendhilfeträgers Heidehaus, die umliegenden Kitas, die katholische Kirchengemeinde und der Verein "Bürger für Bürger", der zum Beispiel das Kochprojekt auch finanziell unterstützt. Auch dem Erzbistum Paderborn ist das Projekt so wichtig, dass finanzielle Mittel fließen, über die Caritas-Stiftung sowie durch den Fonds für spezifisch armutsorientierte Dienste der Caritas.