Keine Zeit für Langeweile
Neugierig beugen sich Johanna Ermisch und Erika Niegel über die Fotos: das Ergebnis eines anderthalb-tägigen Fotoshootings im St. Marienkrankenhaus in Brandenburg. Sie zeigen die beiden im Gespräch mit einem Arzt, mit einer Krankenschwester, die eine Kanüle anlegt, beim Gehtraining und in vielen weiteren typischen Situationen im Krankhaus. Für eine Caritas-Broschüre waren ehrenamtlich Senioren-Models gesucht worden. Als Johanna Ermisch und Erika Niegel gefragt wurden, ob sie sich vorstellen könnten als ehrenamtliche Models zu posieren, sagten sie sofort zu. "Es war zwar anstrengend, aber wir hatten viel Spaß", erzählen die beiden Freundinnen vergnügt. Und man glaubt es ihnen sofort.
Johanna Ermisch ist 82, Erika Niegel 85. Beide sehen etliche Jahre jünger aus. Auf einem der Fotos sitzt Ermisch in einem Krankenhausbett. Neben ihr steht ein Stationsarzt. "Hübscher Arzt, habe ich gleich gesagt", sprudelt es aus ihr heraus. "Aber der war ganz schüchtern." Erika Niegel meint: "Ich habe früher gern geflirtet, aber im Rahmen." Sie sei auch heute nicht abgeneigt für einen Flirt, allerdings tue sich nicht mehr viel. Die Männer seien deutlich in der Unterzahl, so wie bei die Seniorentanzgruppe der katholischen Kirchengemeinde in Brandenburg. Da sind nur zwei Männer dabei. Einmal in der Woche kommt Erika Niegel zum Training. Dort hat sie auch Johanna Ermisch kennen gelernt. Man kann sich gut vorstellen, wie sich die beiden im Takt wiegen und übers Parkett schwofen: beim Gassentanz oder beim Foxtrott. Johanna Ermisch meint jedoch, das sei ihr inzwischen zu anstrengend geworden. Die Beine machen nicht mehr mit. Sie ist gehbehindert, seit sie Kinderlähmung hatte. "Doch mit den Armen geht noch was", sagt sie. Deshalb mache sie jetzt bei der Sitztanzgruppe mit. Dort trainiert sie Kraft und Koordination. Erika Niegel schwimmt und macht Wassergymnastik.
Beide Frauen sind noch so fit, dass sie sich allein versorgen können. Sie sitzen auf der Couch in Johanna Ermischs Wohnung im Caritas-Seniorenzentrum St. Benedikt in der Brandenburger Altstadt. Hier befindet sich alles unter einem Dach: Seniorenwohnen mit Service, Tagespflege und Pflegeheim. Hier wurde auch Johanna Ermischs Mann bis zu seinem Tod betreut. Sie erzählt davon mit leiser Stimme und wischt sich eine Träne weg. 50 Jahre waren sie verheiratet und haben Goldene Hochzeit gefeiert. Auch Erika Niegel ist verwitwet. Sie war 25 Jahre verheiratet - und wenn sie von ihrem Mann erzählt, leuchten ihre Augen. Als wäre es gestern gewesen, erinnert sie sich an ihre erste Begegnung. Ein Betriebsausflug: zwei Männer und 35 Frauen. Doch ihr Mann wollte nur sie. "Fräulein, Sie tanzen aber gut", habe er gesagt. "Es hat sofort gefunkt", erinnert sie sich. Sie heirateten bald und bekamen einen Sohn. Johanna Ermisch hat eine große Familie: drei Kinder, sieben Enkel und sechs Urenkel. Die Familie kommt gern zu Besuch in ihre kleine Wohnung im Seniorenzentrum St. Benedikt der Caritas-Altenhilfe. Diese ist geschmackvoll eingerichtet: hell und freundlich mit viel Lila. In der Diele setzen ihre Tücher Sammlung fröhlich-bunte Akzente. Ohne Halstuch geht die 82-Jährige nicht aus dem Haus. Sie legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Die Seniorin trägt einen adretten Pagenschnitt, ihre Haare leuchten rotbraun. Ihre Fingernägel sind sorgfältig manikürt und rot lackiert. Alle sechs Wochen gehe sie zur Fußpflegerin und zur Kosmetikerin, erzählt sie. "Und wenn ‚ne Mondlandschaft auf dem Kopf ist, gehe ich zum Friseur", sagt sie und lacht. Graue Stellen in der Frisur - das komme für sie nicht in Frage.
Auch Erika Niegel lässt färben. Ihre aschblonden Haare harmonieren mit ihrem Teint. Haut- und Körperpflege sind auch ihr wichtig. "Doch Antifaltencreme brauchen wir nicht", versichern die beiden schmunzelnd. Und ansonsten? "Viel frische Luft", sagt Erika Niegel. "Und jeden so nehmen wie er ist", ergänzt Johanna Ermisch. So bleibe man entspannt. Als die Mauer fiel, habe sie sich die Welt angeschaut: Mexiko, Feuerland, Thailand, Vietnam. Sie sind viel herumgekommen und immer noch gern unterwegs. Erika Niegel war in diesem Jahr auf Madeira, Johanna Ermisch macht Ende des Jahres eine Kreuzfahrt. Für Langeweile haben beide keine Zeit. An langen Winterabenden vertreiben sie diese mit Spielen im Caritas-Seniorenzentrum St. Benedikt: Rummikub, Skip-Bo und Bingo. Ein paarmal im Jahr geht es ins Theater und ins Konzert. Dafür brezeln sich die beiden gern auf: Johanna Ermisch im schicken Abendkleid und Erika Niegel im seidenen Hosenanzug. Mal wieder ehrenamtlich modeln für eine soziale Sache? "Gern, aber nur zu zweit", meinen die beiden und lachen verschmitzt.