Den aufrechten Gang bewahren
Es gilt die Augen fest geschlossen zu halten, möglichst auch die Ohren, denn ein Notarztwagen rauscht vorbei, das Martinshorn eingeschaltet.
Die Personen, die an diesem Mittwochnachmittag auf den Gymnastikmatten im Arbeitslosenzentrum Herne (ALZ) liegen, stört das alles nicht. "Es tut richtig gut", lautet das Fazit der Teilnehmer, überwiegend Frauen über 50. Was nach einem Wellness-Angebot aussieht, hat einen ernsten Hintergrund. Denn die Teilnehmer sind langjährig arbeitslos. "Arbeitslosigkeit ist mit einer Fülle von gesundheitlichen Folgeproblemen verbunden", betont Franz-Josef Strzalka. Der Psychotherapeut leitet seit fast 30 Jahren die Herner Einrichtung, die 1984 auf Initiative der katholischen Kirche entstand. Neben der Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit sind bei Langzeitarbeitslosen auch immer wieder körperliche Beschwerden zu beobachten. Häufig bedingen und verstärken sie sich gegenseitig - ein Teufelskreis. "Gerade langzeiterwerbslose Menschen kommen dann ohne Hilfe nicht mehr aus der Spirale von Arbeitslosigkeit und schlechter Gesundheit heraus", erklärt Strzalka.
"Eigentlich sind hier alle körperlich am Ende", schoss es ihm vor einiger Zeit durch den Kopf beim Blick auf die Besucher, unter ihnen viele Stammgäste. Da sind die zittrige Hand, die langsamen Bewegungen nach einem Rheumaschub oder der gebeugte Gang nach dem dritten Bandscheibenvorfall. Wer annimmt, dass Langzeitarbeitslose mit zunehmendem Alter gelassener werden, ist auf dem Holzweg. Eigentlich seien die Betroffenen immer unter Druck, sei es von außen durch Termine bei Arbeitsagentur, Jobcenter oder Krankenkasse.
Um ihren ALG-II-Anspruch nicht zu verlieren, müssen zum Beispiel Bewerbungen geschrieben werden, deren Erfolgsaussichten häufig gleich null sind. Innerlich nagt Arbeitslosigkeit auch ohne diese äußeren Stressfaktoren an der Psyche, verringert Selbstwertgefühl und Lebensfreude. Über Jahre hinweg keine Arbeit zu haben, kann einem den aufrechten Gang rauben. "Selten habe ich so starke Verkrümmungen erlebt wie hier", berichtet Physiotherapeutin Ursula Reckinger. Die ständig erhöhte Alarmbereitschaft der Psyche lässt die Muskelanspannung steigen, chronische Verspannungen und Schmerzen sind die Folge. Statistiken weisen 50 Prozent mehr Krankenhaustage mit dieser Diagnose für Menschen ohne Arbeit auf.
Gleich vier Mal häufiger als Erwerbstätige sind Arbeitslose von psychischen Problemen betroffen. Dies betrifft vor allem Depressionen, was gerade für diese Zielgruppe tragisch ist "Depressionen werden von Außenstehenden häufig missdeutet als Trägheit oder Antriebsschwäche", so Franz-Josef Strzalka.
Die physiotherapeutischen Angebote des ALZ verstehen sich als vorbeugende Maßnahmen. Gerade Arbeitslose neigten dazu, Hilfsangebote abzulehnen, weil diese als stigmatisierend empfunden würden. Maßnahmen, wie sie das ALZ dank finanzieller Förderung durch den Sonderfonds für spezifisch armutsorientierte Dienste der Caritas im Erzbistum Paderborn anbietet, durchbrechen diese Skepsis und tragen dazu bei, dass Betroffene Hilfsangebote auch wirklich in Anspruch nehmen. Nicht zuletzt eröffnen sie einen neuen Zugang zu sich selbst - und sei es über den Weg einer entspannenden Phantasiereise.