Auf eigenen Beinen stehen
Schuhe sind Angelas große Leidenschaft. Pumps mit 16 Zentimeter hohen Absätzen bereiten ihr keine Schwierigkeiten, doch für die Schritte ins Leben braucht die 18-Jährige Hilfe. Sie hat als Kind in ihrer Familie schwere Krisen und wenig Halt erfahren, bis das Zusammenleben mit der Mutter unmöglich wurde. Jetzt lebt sie seit gut einem Jahr im neuen Haus der Außenwohngruppe des Caritas-Kinderdorfs Marienstein in Ingolstadt. Inzwischen macht sie eine Ausbildung als Sozialpflegerin, kocht leidenschaftlich gerne afrikanisch und spielt ambitioniert Handball in der Landesliga. Ihr Leben hat wieder Stabilität bekommen.
Schwierige Situationen durchlebt
So wie Angela, die in Wirklichkeit anders heißt, tragen alle acht Jugendlichen der Außenwohngruppe ihre persönliche Geschichte mit sich. Diese erzählen von familiären Verwerfungen, Misshandlungen oder Suchtproblemen und Traumata. Viele der Jugendlichen wie der 16-jährige Justin T. haben dies bereits in jungen Jahren erfahren und lebten daher vor ihrem Wechsel nach Ingolstadt im Caritas-Kinderdorf Marienstein. Justin genießt seine neuen Freiheiten in der Wohngemeinschaft. „Die Regeln im Kinderdorf sind für Kleinere gemacht“, meint er, „hier wird man wie ein Jugendlicher behandelt.“
Ziel der Außenwohngruppe ist es, die Eigenverantwortung der Teenager zu fördern. „Sie sollen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, eine eigene Wohnung zu führen und nach ihrer Ausbildung einem Beruf nachzugehen“, erklärt Gruppenleiter Walter Meyer-Schraufstetter. Deshalb haben die Jugendlichen nicht nur mehr Rechte, sondern auch mehr Pflichten. Eine Woche lang für die Gruppe kochen, Gemeinschaftsräume putzen oder Lebensmittel einkaufen - das bedeutet Verantwortung. „Unsere Kids sind vermutlich besser auf das Leben vorbereitet als manch anderer Jugendlicher“, sagt Meyer-Schraufstetter.
Das neue Haus in der Händelstraße, in dem die jungen Menschen jetzt wohnen, ist großzügig geschnitten und lichtdurchflutet. Im Obergeschoss befinden sich die Einzelzimmer der zwei Bewohnerinnen und sechs Bewohner, im Erdgeschoss die Gemeinschaftsräume: unter anderem ein offener Koch-Essbereich, ein Fitness- u Freizeitraum und ein Fernsehzimmer. Für die Mitarbeiter gibt es ein geräumiges Büro, ein großes Besprechungszimmer und eine bequeme Schlafgelegenheit für die Nachtbereitschaft. Ein Team von zwei pädagogischen und drei sozialpädagogischen Fachkräften steht den Teenagern beinahe rund um die Uhr zur Seite. „Wir sind da, sobald sie von der Schule oder Ausbildungsstelle kommen und bleiben bis zum nächsten Morgen, wenn sie wieder aus dem Haus gehen.“
Jeder der acht Jugendlichen hat ein eigenes Zimmer. Bett, Schreibtisch und Stühle stehen im neutralen Weiß und frischen Grün bereit. Die Wände und Regale dekoriert jeder selbst. „Es ist viel besser als im alten Haus in der Stömmerstraße. Die Zimmer sind gleich groß“, weiß Andreas B., der inzwischen in ein Trainingsapartment gewechselt ist, „so kann sich keiner benachteiligt fühlen.“
Das Trainingsapartment ist ein weiteres Angebot im neuen Wohnkomplex, das auf der heilpädagogischen Wohngruppe aufbaut. Es ist eine abgeschlossene Ein-Zimmerwohnung mit Küchenzeile, Bad und eigener Eingangstür. Die räumliche Nähe zur vertrauten Wohngruppe gibt Sicherheit, und dennoch macht der Wechsel in das Trainingsapartment für den 18-jährigen Andreas „voll den großen Unterschied“. „Es gibt keine festen Regeln mehr und man muss alles selbst machen.“ Aus seiner Stimme hört man, dass er diese Freiheit schätzt, aber nicht immer leicht findet.
Vertrauensbasis geschaffen
Die 18-jährige Anna, deren Name hier auch geändert ist, hat es schon geschafft. Sie nutzt das Angebot des außenbetreuten Wohnens und lebt seit einem halben Jahr in ihrer eigenen Wohnung in Ingolstadt. „Die Wohnung ist die dritte Säule unseres dreistufigen Konzeptes“, erklärt Bereichsleiterin Lisbeth Wolkersdorfer. „Das Kinderdorf mietet für die jungen Menschen, denen wir ein weitgehend selbstständiges Leben zutrauen, eine Wohnung an und stellt einen eigenen Betreuer ein, um sie zu begleiten“. Diese Leistungen zahlt meist das Jugendamt bis zum Ende der Schul- oder Berufsausbildung. Oft endet die Hilfe aber direkt am letzten Prüfungstag, dann müssen die Jugendlichen auf eigenen Beinen stehen.
Anna trifft sich mit ihrem Betreuer Anton Werther zweimal in der Woche. Dann besprechen sie die Schulsituation, den Kontostand oder die Ordnung in der Wohnung. Sie kaufen gemeinsam ein, schreiben gemeinsam Bewerbung oder gehen einfach nur Pizza essen. Es wird viel gelacht zwischen den beiden und so entsteht die Vertrauensbasis, die auch in Krisensituationen trägt. „Mein Ziel ist es, mich selbst abzuschaffen“, meint Anton Werther verschmitzt. Anna kommt mit ihrer Selbstständigkeit gut zurecht. Sie schätzt die Fertigkeiten, die sie in der Außenwohngruppe gelernt hat. „Man nimmt viel mit aus der AWG“, sagt sie. Nur an die Portionsgrößen im Singlehaushalt musste sie sich gewöhnen. „Im Wohnheim habe ich für zehn Personen gekocht, da blieb bei mir in letzter Zeit immer viel übrig – aber jetzt wird es langsam besser.“