Mit dem Talker lässt sich auch scherzen
„Ich möchte eine andere Arbeit,“ klingt es in klarer und netter, wenn auch erkennbar technisch erzeugter Stimme aus dem Bildschirm. Carmen Wulf weiß, dass ihre Gruppenleiterin in der Werkstatt das nicht gern hört. Aber sie meint es ja nicht ernst. Mit dem „Talker“ kann sie nicht nur ihre tatsächlichen Wünsche äußern, auch scherzen geht jetzt und jeder versteht sie. Viele der Beschäftigten und Bewohner der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN) rund um Moers waren bislang darauf angewiesen, dass ihre Betreuer sie gut genug kannten, um aus Gesten und Lauten zu erschließen, was ihnen am Herzen liegt. Aber niemand sonst konnte sie verstehen.
In einem von der Aktion Mensch unterstützten Projekt sollen Beschäftige und Bewohner künftig allen Menschen gegenüber ihre Wünsche und Gefühle äußern können - die meisten mit moderner Technik, andere mit Gebärdensprache. Die Krankenkasse übernimmt dabei die Kosten der individuellen Diagnostik und Versorgung. Mit Hilfe der Aktion Mensch soll das Projekt im Sozialraum vernetzt und die Beratung im sozialen Umfeld erreicht werden, so Barbara Telgen, Leiterin des Bereiches Wohnen und Freizeit: „Das ist für das Gelingen der Unterstützten Kommunikation notwendig“. Dieses Netzwerk stehe jedem Ratsuchenden offen, auch wenn er kein Bewohner oder Beschäftigter der CWWN sei.
„Mehr ist nicht zu schultern“
Egal ob wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung und oft der Kombination, vielen Menschen mit Behinderung fehlt die Möglichkeit sich verständlich mitzuteilen. Eine Erhebung habe gezeigt, dass von 400 Bewohnern in den Wohneinrichtungen der CWWN am linken Niederrhein etwa 120 damit Schwierigkeiten haben, weiß Telgen. Sie hat früher mit Gehörlosen gearbeitet und deshalb das Projekt „Unterstützte Kommunikation“ in Angriff genommen. Vor vier Jahren gestartet gewinnt es jetzt richtig an Schwung. „70 Bewohner befinden sich zur Zeit in der Diagnostik“, erklärt Telgen: „Mehr ist nicht auf einmal zu schultern“.
Die CWWN haben dabei den Vorteil, dass sich eine der wenigen logopädischen Praxen für erwachsene behinderte Menschen in Moers befindet. Zehn bis 20 Sitzungen seien für jeden Einzelnen im Zentrum für unterstützte Kommunikation (ZUK) notwendig, um den passenden Weg zu finden. Das kann ein „Talker“ sein, ein robuster Tablet-Computer, aber auch ein „Ich-Buch“. Der Talker wiederum muss individuell auf jeden behinderten Menschen zugeschnitten werden und kann zwischen neun und 300 Felder für bestimmte Begriffe und Sätze haben, die angewählt werden können. Manchmal geht es auch mit Tastatur.
Und dann muss geübt werden. Betreuer Adrian Vallen hat mit Carmen Wulf zusammen gesessen, geduldig die Menüs erklärt und ist wieder und wieder mit ihr die verschiedenen Möglichkeiten und Kombinationen durchgegangen. Symbole führen sie zu den einzelnen Feldern wie Arbeit oder Essen, Freizeit oder Befindlichkeiten. Jetzt kann sie jedem mitteilen, dass sie zum Frühstück ein Ei wünscht und ohne Nutella geht gar nicht.
Ich-Buch kann helfen
Sind auch die Steuerung eines Talkers beispielsweise wegen einer Spastik nicht möglich und verständliche Lautäußerungen ebenso wenig, kann das Ich-Buch helfen mit Fotos und Grafiken aus den verschiedensten Lebensbereichen, auf die die Bewohner zeigen können. Telgen: „Da steht drin, was wichtig ist“. Natürlich muss auch das für Jeden individuell gestaltet werden.
Doch wenn man Inklusion ernst nehme, müsse man sich diese Mühe machen. „Es reicht nicht zu glauben, was der Bewohner will“, sagt Barbara Telgen. Selbst mit diesen Hilfsmitteln ist es nicht einfach. Carmen Wulf ist die hohe Konzentration anzumerken, wenn sie Fragen beantworten will. Aber auch sie entwickelt „einen ungeheuren Ehrgeiz“, wie ihn Telgen bei ganz vielen Bewohnern erlebt. Sich nicht äußern zu können, mache unzufrieden. Als ein Ergebnis des Projektes sei deshalb zu erwarten, dass die Verhaltensauffälligkeiten weniger werden.
Das Problem ist lange bekannt, aber erst jetzt seien Technik und Bewusstsein genügend entwickelt, um sie einzusetzen. Schwierig sei es vor allem für die älteren behinderten Menschen. Bis zur Jahrtausendwende habe man die Meinung vertreten, Gehörlose sollten die passenden Lippenbewegungen ablesend sprechen lernen. Erst seit gut zehn Jahren werde in den Schulen die Deutsche Gebärdensprache gelehrt, so Telgen.
Die zwölf einfachsten Gebärden
Die CWWN haben sich jetzt zum Ziel gesetzt, für diese, wenn auch eher kleine Gruppe der Beschäftigten und Bewohner, alle Gruppenleiter zumindest in den zwölf einfachsten Gebärden zu schulen. In einem nächsten Schritt sollen alle Mitarbeitenden die Grundbegriffe erlernen. In Werkstatt und Wohneinrichtung gibt es schon jetzt „Tandems“. Jeweils ein betreuender Mitarbeiter hier und dort können „gebärden“ und so die lückenlose Kommunikation sicherstellen.
Um den Nutzern und überhaupt allen rund 1.200 Beschäftigten künftig Orientierung und Kommunikation zu erleichtern ist damit begonnen worden, die Symbole an Türschildern und auf den Talkern zu vereinheitlichen. „Ein Ball steht immer für Sport“, nennt Barbara Telgen ein Beispiel. Ebenso für alle von Nutzen ist die einfache Sprache, die in der Praxis so schwierig zu schreiben ist. Aber auch daran wird gearbeitet. Werkstattvertrag unf Informationsmaterial wird es künftig in verständlicherer Fassung geben, die Internetseite ist bereits danach gestaltet.
Viel Arbeit steckt darin und bleibt zu tun. Was dabei hilft, ist die spürbare Freude zum Beispiel von Carmen Wulf, sich endlich über die einfachsten Grundbedürfnisse hinaus besser mitteilen zu können. Trotz der hohen Konzentration, die der Talker ihr abverlangt. Jetzt verstehen sie auch andere Menschen und nicht nur Adrian Vallen oder ihr Freund, der auf Papier gleich festhält, was sie dem Talker zu sagen aufgegeben hat.