Den richtigen Weg gefunden
Die Köpfe rauchen. Angestrengt blicken die Kinder auf das vor ihnen liegende Aufgabenheft. "Ich check‘ das einfach nicht. Ich hab keinen Plan", sagt ein Junge ziemlich ratlos. Doch zum Glück gibt es Anna Rademacher. Sie macht an der Offenen Ganztagsschule (OGS) in der Leipziger Straße in Gelsenkirchen ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). Geduldig erläutert sie die Aufgabe und erklärt, wie die Quadratmeter berechnet werden. Immer wieder zeigen einige der Viertklässler auf, um zu signalisieren, dass sie Hilfe bei ihren Hausaufgaben brauchen.
Gleich nach dem Abitur hat Anne Rademacher mit einem Lehramtsstudium für den Unterricht an weiterführenden Schulen begonnen. Doch schon nach zwei Semestern wurde der 21Jährigen klar, dass es nicht das Richtige für sie ist: "Es war irgendwie unbefriedigend. Nur Theorie, aber keine Praxis." Rückblickend sei es wohl ein Fehler gewesen, direkt nach der Schule mit dem Studium zu beginnen. Obwohl die Richtung durchaus stimmte. "Es sollte immer ein Beruf werden, bei dem ich mit Menschen arbeite und ich helfen kann. So wie meine Eltern, die beide in sozialen Berufen tätig sind", sagt die junge Frau.
Theorie und Praxis
Sie brach das Studium ab und machte in ihrer Heimatstadt Herten Praktika in einem Kindergarten und in einem Kinderheim. Für die Arbeit an der Offenen Ganztagsschule interessierte sie sich, weil hier der schulische und der erzieherische Bereich eng miteinander verbunden sind.
Vormittags ist Anna Rademacher beim Unterricht mit dabei und gibt Förderstunden, um Defizite im Rechnen oder Lesen zu überwinden. Am Nachmittag hilft sie bei den Hausaufgaben, spielt mit den Kindern oder unterstützt die Foto-, Bewegungs-, Musik- und Vorlese-Arbeitsgemeinschaften. Monatlich erhält sie dafür 350 Euro. Anna Rademacher fühlt sich an der OGS gut aufgehoben: "Ich gehöre hier ganz selbstverständlich dazu und bin ein anerkanntes Teammitglied und nicht bloß die Praktikantin." Sie hat auch schon andere Erfahrungen gemacht.
Was ihr fehlt ist Zeit - Zeit, um viel intensiver mit dem einen oder anderen Kind zu arbeiten. "Aber das ist schwierig bei über 70 Kindern, so sehr wir uns auch bemühen. Manche bräuchten viel mehr an Zuwendung oder Aufmerksamkeit und Unterstützung, als ich ihnen geben kann", bedauert Anna Rademacher.
Ihre Einschätzung teilen die Erzieherin der OGS Kristina Hagemann und ihr Kollege Christoph Korella von der Caritas Gelsenkirchen. Viele Kinder kommen aus einkommensschwachen Familien, und oft sind die Eltern stark mit ihrer eigenen Situation beschäftigt. Für die Kinder bleibe viel zu wenig Zeit. "Doch es gibt auch Eltern, die sehr engagiert sind und mit uns zusammenarbeiten", betont Kristina Hagemann.
Da über die Hälfte der Kinder ohne Vater aufwachsen, suchen sie in Christoph Korella eine Vaterfigur, eine starke Schulter zum Anlehnen.
Erfahrungen sammeln
Welchen Weg die Kinder einmal einschlagen werden, vermag heute niemand zu sagen. Anna Rademacher hat ihren Weg gefunden. Sie möchte nach dem FSJ eine Ausbildung zur Erzieherin beginnen. Studieren könne sie danach ja immer noch. Vor allem möchte sie in einem Bereich tätig sein, wo sie möglichst intensiv mit einzelnen Kindern arbeiten kann.
Sie findet es gar nicht schlimm, dass sie den einen oder anderen Umweg genommen hat - im Gegenteil. "Das FSJ hilft, Erfahrungen zu machen und den Kopf frei zu bekommen. Für mich war es gut, um mir darüber klar zu werden, was ich wirklich will."