"Mir träumte!"
Melissa will noch nicht ins Bett, doch die Mutter wiegt sie mit einem Lied in den Halbschlaf. In einem Dämmerzustand hört sie den Vater betrunken nach Hause kommen. Ein Streit zwischen den Eltern entzündet sich und auf ihrer "Seelenbühne" erscheinen Traumgestalten, freundliche und garstige. So verläuft die Geschichte des Liederabends ,Mir träumte‘ in Kurzform - die sich auch im Alltag jedes mitwirkenden Kindes ereignen könnte.
Im Kinderopernhaus Lichtenberg, Teil des Caritas-Kinder- und Jugendzentrum Steinhaus, war die Aufregung der letzten Monate kaum verflogen, da wurden bereits Rufe nach etwas Neuem laut. Gut zwei Dutzend Mädchen und Jungen hatten nach dem ambitionierten und erfolgreichen Kinderopernprojekt "Sternzeit F:A:S." in 2010 noch immer nicht genug. "Trotz auch anstrengender Phasen innerhalb der langen Entstehungszeit mit 120 mitwirkenden Kindern kam nach der letzten Aufführung ganz schnell die Frage auf: Und was machen wir jetzt?", erzählt Sarah del Lago (33 Jahre), Regisseurin. Regelrecht angefleht hätten sie die Kinder nach einem Folgeprojekt. "Kinder singen so gerne." Und so war die Idee geboren. Was lag näher, als das Lied ins Zentrum zu stellen. Nur etwas kleiner sollte es schon sein.
Singen ist auch Lauras Leidenschaft. Laura R. (12 J.) hatte schon bei der ersten Produktion über ihren Chor zum Steinhaus gefunden. "Am liebsten mag ich das Singen mit den anderen und das Schauspielen"; erzählt Laura . In "Mir träumte" spielt sie einen Siamesischen Zwilling. Und in der Staatsoper auf der Bühne zu stehen, im Rampenlicht, "darauf hätte ich immer wieder Lust", sagt sie. Auch ihr Bruder Leon (9 J. ) ist dieses mal mit dabei und spielt Akkordeon. "Einmal sollte ich eigentlich Laura bloß von der Probe abholen." Schön sei es gewesen, den Liedern zuzuhören. "Und dann wollten sie mich nicht mehr gehen lassen", erzählt er mit einem Lächeln.
"Damals hatte wir ein fertiges Stück", beschreibt Sarah del Lago, den Unterschied zur aktuellen Produktion. "Bei dem nun einstudierten Liederabend entstand alles mit den Kindern gemeinsam. Jedes Kind schnitt den vorgeschlagenen Text auf sich zurecht, variierte seine Rolle, brachte eigene Ideen ein." Bei jeder Aufführung entstehe durch Variation so immer wieder etwas Neues.
Die Proben, das Singen und Schauspielen sind eine Lernprozess für die Kinder, in dem sie sich nicht zuletzt selbst entdecken. So zum Beispiel bei Fabian N. (11 J.). Er gehört eher zu den ,wilden‘ Jungs. "Als Diabolo nerve ich die Vögel in der Aufführung", erzählt er. Streng und zärtlich ist sein Charakter im Stück, hart und herzlich. "Ich kann auch in andere Rollen schlüpfen, Neues ausprobieren", sagt er. Das sei irgendwie spannend. Und so singt er im Sopran trotz seiner ,garstigen‘ Seiten im Stück eben auch: Wenn ich ein Vöglein wär. "Beim Spielen kann man eine ganz andere Perspektive einnehmen", erzählt auch Charlotte G. (11. J.). Sie fasziniere vor allem das Schauspielen für und vor anderen. "Im Alltag kleistert man sich so zu, aber beim Theater kann man endlich mal seine Gefühle rauslassen."
Romantische Lieder von Schumann, Brahms Schubert und Mozart, umrahmt von sterilen Plattenbauten. Die Umgebung des Caritas-Kinder- und Jugendzentrum Steinhaus lässt atmosphärisch nichts unpassender erscheinen, als eben diese Musik - und ist vielleicht eben gerade deshalb hier so wichtig. Es ist nicht lange her, da fehlte den meisten Kindern im Jugendzentrum zu klassischer Kultur noch jeder Bezug. Ein Manko und eine ungenutzte Chance, wie die Initiatorin und Caritas-Regionalleiterin Regina Lux-Hahn schon vor Jahren fand. Unter dem Motto "Lichtenberg goes Staatsoper" entwickelte der Caritasverband daraufhin mit der Staatsoper seit 2009 kulturpädagogische Projekte im Steinhaus. Gerade hier im Kiez sollte den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, klassische Kultur, Schauspiel, Gesang und Oper kennenzulernen, so Lux-Hahn.
Genauso sieht es auch der Kooperationspartner. "Oper ist etwas besonderes und sollte doch auch etwas ganz normales sein", so Wolfgang Hinzpeter von der Staatskapelle Berlin. Für Kinder und Jugendliche habe man als Staatsoper schon einige Projekte durchgeführt. "Ein Baustein fehlte uns dabei jedoch bisher, nämlich an Kinder heranzukommen, die sonst nicht die Gelegenheit haben, mit klassischer Musik in Kontakt zu kommen", sagt Hinzpeter. Das sei für die Staatsoper der große Wert an der gemeinsamen Arbeit im Lichtenberger Steinhaus. Eine Arbeit, die nachhaltig Erfolg zeigt.
"Ich mag für mich allein nicht unbedingt Mozart hören", sagt Jonathan R. (11 J.). Aber er könne diese Musik jetzt schätzen und es mache ihm Spaß, klassische Lieder zu singen. Auch bei ihm seien es die Auftritte, das Rampenlicht gewesen, was ihn besonders motiviert habe. "Man kann dann zeigen was man kann. Das macht einen stolz und selbstbewusst." Als Traummoderator habe er in der Produktion viel Text lernen müssen. "Das war echt anstrengend aber macht eben auch Spaß, wenn mans dann kann." Man müsse dran bleiben und lerne so, sich zu konzentrieren. Später wolle er Schauspieler werden, "oder vielleicht doch Informatiker".
"Reifen ist das richtige Wort, um die erstaunliche Entwicklung der Kinder zu beschreiben, die die meisten während der Proben und Aufführungen seither durchgemacht haben", so del Lago. "Heute ist es fast gar nicht mehr vorstellbar, dass sich einige Kinder am Anfang überhaupt nicht richtig artikulieren konnten, nur Schimpfwörter waren zu hören." Nun würden dieselben hingebungsvoll Rilketexte rezitieren oder bei Arien leidenschaftlich dahinschmelzen. "Hier lernen so mache zum ersten Mal einen Ausdruck für ihre Gefühle zu finden", sagt del Lago. In den gemeinschaftlichen Proben seien auch Fehler erlaubt. Das stärke die Kinder. "In den Proben kann man endlich den ganzen Stress aus der Schule vergessen", erzählt so auch Jennifer G. (12 J.). Die meisten in ihrer Klassen fänden natürlich Oper und Gesang doof, aber das sei ihr mittlerweile egal.
Wie schon bei der letztjährigen Produktion wurden auch diesmal die mitwirkenden Kinder von erfahrenen Musik- und Theaterpädagogen, Sozialpädagogen und Künstlern begleitet. Neben der Regie durch Sarah del Lago war Lena Haselmann für die musikalische Entwicklung und die Gesangspädagogik verantwortlich. Die instrumentale Entwicklung lag in den Händen von Zarko Jovasevic, die Kostüme entwarf Monique Van den Bulck.
Mit großem Interesse und viel Beifall bedacht fand auf der Werkstattbühne der Staatsoper im Schillertheater nun Ende Mai die Premiere von "Mir träumte! - ein inszenierter Liederabend" statt. Weitere Aufführungen folgten am gleichen Ort. Interessierte haben vom 17. bis 20. Juni 2011 nochmals die Möglichkeit, sich in der Max-Taut-Aula in Berlin-Lichtenberg von der Energie und dem Können der kleinen Sänger und Schauspieler begeistern zu lassen.
www.kinderopernhaus-lichtenberg.de