Digitalisierung: Wo klemmt es bei der Caritas vor Ort?
Keine Frage: Das Thema "Digitalisierung" ist in aller Munde. Ausweislich der Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene, aber auch auf der Landesebene, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, hat die Politik einen erheblichen digitalen Nachholbedarf erkannt und beeilt sich, mit Förderprogrammen, etwa für kleinere und mittlere Unternehmen, den Anschluss wiederherzustellen. Aber auch in der Caritas selbst weitet sich der Blick über die Landschaft der sozialen Medien hinaus und es wächst die Erkenntnis, dass alle Arbeitsfelder der Caritas bereits heute und künftig noch viel stärker von Digitalisierungsprozessen betroffen sind. Wie alle Strukturen der Caritas steht damit auch der Diözesan-Caritasverband Münster vor der Frage, was diese digitale Herausforderung für die konkreten Aufgaben eines Spitzenverbandes bedeutet.
Bei der Beschäftigung mit dieser Fragestellung wurde klar, dass die Ausgangslage relativ diffus erscheint: Natürlich sind einzelne Digitalisierungsprojekte und -modelle der caritativen Träger im Bistum Münster bekannt. Aber es gibt keinen einigermaßen verlässlichen Überblick darüber, wie in der Breite der Trägerlandschaft in den unterschiedlichen Feldern der Caritas die Frage der digitalen Entwicklung eingeschätzt wird, welche Erneuerungsbedarfe gesehen werden und welche Unterstützung dabei durch den Diözesan-Caritasverband (DiCV) als Spitzenverband gewünscht wird. Ohne Kenntnis dieser Einschätzungen und Erwartungen seitens der Träger lässt sich aber nach Meinung des Diözesan-Caritasverbandes eine digitale Handlungsstrategie für den Spitzenverband nicht sinnvoll aufstellen.
Um den Einschätzungen der Träger "auf die Spur" zu kommen, hat sich der Diözesan-Caritasverband Münster für zwei "Erkundungsprojekte" entschieden: einen digitalen Ideen-Wettbewerb, bei dem die Träger der Caritas aus dem Bistum Münster Gelegenheit hatten, sich mit konkreten Projekten um finanzielle Unterstützungspreise für die Umsetzung dieser Ideen zu bewerben, und eine umfassende Mitgliederbefragung.1 Diese wurde in Kooperation mit der Arbeitsstelle für Sozialinformatik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt durchgeführt. Über das letztgenannte Projekt berichtet dieser Beitrag.
Studienkonzept und Befragungsteilnehmer
Grundlage der Befragung bildete eine Sammlung von Themenfeldern, die der Diözesan-Caritasverband erarbeitete, sowie eine qualitative Vorstudie, in der Einschätzungen ausgewählter Führungskräfte der Mitgliedsorganisationen mit Hilfe von Experten-Interviews erhoben wurden. Im Dezember 2017 wurde insgesamt 355 Geschäftsführer(inne)n der Mitgliedsorganisationen ein Online-Fragebogen zur Verfügung gestellt. Die Rücklaufquote lag bei 43 Prozent. Die Spannbreite der teilnehmenden Organisationen reichte von kleinen Einrichtungen mit wenigen Mitarbeitenden an einem Standort bis zu großen Trägern mit bis zu 4000 Mitarbeitenden oder 51 Einzelstandorten. Caritastypisch war auch die Breite der vertretenen Arbeitsfelder. Aufgrund der hohen Beteiligung und der breiten Streuung über Einrichtungsgrößen und Arbeitsfelder sind die Ergebnisse für den gesamten Verband repräsentativ.
Großer Bedarf in ambulanter Pflege und Kliniken
Für jedes Betätigungsfeld wurde zunächst gefragt, wie hier der eigene Digitalisierungsbedarf eingeschätzt wird. Dabei zeigte sich bei den Kliniken und in der ambulanten Pflege der höchste Bedarf. Dies ist insofern nachvollziehbar, als in der ambulanten Pflege interne Prozesse wie die Tourenplanung oder die Leistungserfassung durch digitale Technologien sehr gut optimiert werden können.2 Auch im Bereich der Kliniken spielt das Thema Digitalisierung bereits eine zentrale Rolle. Investitionen werden dort zielgerichtet getätigt.3 Schließlich gehören sowohl die ambulante Pflege als auch der Kliniksektor zu den Arbeitsfeldern, in denen wirtschaftlicher Druck und Wettbewerb am stärksten ausgeprägt sind. Des Weiteren belegen auch die berufliche Bildung/berufliche Integration und die Schulen hohe Ränge. Dies lässt sich wohl darauf zurückführen, dass vor allem junge Menschen mit hoher Affinität zu digitalen Medien die Zielgruppen dieser Betätigungsfelder sind.4 Die Allgemeine Sozialberatung sowie die existenzsichernden Hilfen beziehungsweise Wohnungslosenhilfe nennen dagegen die geringsten Bedarfe in Sachen Digitalisierung. Eine Erklärung dafür könnte der derzeit noch vergleichsweise geringe Digitalisierungsgrad bei den Zielgruppen dieser Einrichtungstypen sein5, vielleicht aber auch berufsgruppenbedingt geringere Affinitäten zu diesem Thema.
Personalentwicklung hat hohe Priorität
Im nächsten Schritt wurden die Digitalisierungsbedarfe in Bezug auf folgende, aus der Konzeptionsphase hervorgegangene Themenkomplexe untersucht:
- Personalentwicklung;
- digitale Unterstützung der internen beziehungsweise externen Kommunikation;
- Digitalisierung interner Prozesse;
- digitale Unterstützung in der Klientenarbeit.
Jeder der Themenkomplexe wurde in mehrere Unterpunkte gegliedert, die konkrete Aufgaben benennen. Dabei fragten wir zunächst für jeden Unterpunkt ab, welcher Entwicklungsbedarf für die eigene Organisation gesehen wird. Anschließend erkundigten wir uns danach, welcher Unterstützungsbedarf seitens des Diözesan-Caritasverbandes die Verantwortlichen hier sehen.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Führungskräfte der Träger bei den einzelnen Themenkomplexen im Durchschnitt einen mittleren bis hohen Entwicklungsbedarf in Sachen Digitalisierung artikulieren. Ein sehr hoher Bedarf wird nur in 18 Prozent der Antworten benannt.
Das Hauptaugenmerk liegt dabei klar auf der Personalentwicklung. Die Unterpunkte Förderung von Kompetenz und die Akzeptanz der Mitarbeiter(innen) liegen dabei an erster Stelle. Ein etwas geringerer Wert wurde der Nutzung von E-Learning-Angeboten beigemessen.
An zweiter Stelle der Entwicklungsbedarfe steht die digitale Unterstützung der internen beziehungsweise externen Kommunikation. Der am häufigsten genannte Unterpunkt ist hier die Nutzung von sozialen Medien in der Außenkommunikation, gefolgt von der Verbesserung des Internetauftritts. Die Kommunikation innerhalb der Organisation (etwa durch ein Intranet) nimmt hier den letzten Rang ein.
Am dritten Platz aller Nennungen steht die Digitalisierung interner Prozesse. Den Unterpunkten IT-gestützte Optimierung von Prozessen sowie Auswahl und Einsatz von Fachsoftwareprodukten für Klientenverwaltung und Dokumentation wird hier ein annähernd gleicher Stellenwert zugebilligt.
Der geringste Entwicklungsbedarf wird derzeit bei der digitalen Unterstützung der Klientenarbeit gesehen. Die Einschätzung zu den Unterpunkten unterscheidet sich hier jedoch ganz erheblich: Die Ermöglichung digitaler Teilhabe steht an erster Stelle, gefolgt von Mobil-Apps für Klienten und der Nutzung sozialer Medien. Vergleichsweise geringe Bedarfe werden bei der Onlineberatung und den Assistenztechnologien gesehen.
Diözesan-Caritasverband ist als Unterstützer gefragt
Die Personalentwicklung steht nicht nur bei den Entwicklungsbedarfen an erster Stelle: Auch unter allen Unterstützungsbedarfen durch den Diözesan-Caritasverband nimmt sie Platz eins ein, gefolgt von der digitalen Unterstützung der internen und externen Kommunikation. An dritter Stelle liegt die digitale Unterstützung bei der Klientenarbeit und das Schlusslicht bildet die Digitalisierung der internen Prozesse, welche bei den Entwicklungsbedarfen noch an dritter Stelle stand. Hier wird also der DiCV zumindest von einem Teil der Organisationen nicht primär als Ansprechpartner gesehen.
Insgesamt zeigen sich die Unterstützungsbedarfe durch den DiCV etwas schwächer ausgeprägt als die Entwicklungsbedarfe. Die Mitgliedsorganisationen scheinen sich also mindestens einen Teil der Themen selbst zuzutrauen oder möchten sich lieber von anderer Stelle Unterstützung holen. Während bei den ersten drei Themenkomplexen der statistische Abstand zwischen den Entwicklungs- und Unterstützungsbedarfen etwa gleich groß ist, beurteilen die Mitglieder den Unterstützungsbedarf durch den DiCV bei der digitalen Unterstützung der Klientenarbeit fast gleich hoch wie den Entwicklungsbedarf. An dieser Stelle wird also der Verband eindeutig als primäre Anlaufstelle gesehen. Beim Unterpunkt Assistenztechnologien im Bereich der Klientenarbeit liegt der Unterstützungsbedarf sogar knapp vor dem Entwicklungsbedarf. Dieses fast paradoxe Ergebnis interpretieren wir so, dass bei diesem noch sehr niedrig priorisierten Thema vielfach noch grundlegender Informationsbedarf über Produkte und ihre Einsatzszenarien herrscht.
Aus der Expertenbefragung sind neben den oben genannten Themen noch weitere Fragen nach Unterstützungsbedarfen hervorgegangenen. Ihre Auswertung zeigt, dass die Mitgliedsorganisationen die Rolle des DiCV auch im Kontext der Digitalisierung in klassischer Spitzenverbandsfunktion sehen: Förderung des Erfahrungs- und Wissensaustausches und Beratung. Bei den Beratungsthemen steht der Datenschutz an erster Stelle, gefolgt von der Finanzierungsberatung und einer grundlegenden Beratung und Information zu Möglichkeiten der Digitalisierung.
Konsequenzen für die Verbandsarbeit
Die Studie zeigt: Das Thema Digitalisierung ist auf der Ebene der Mitgliedsorganisationen angekommen. Dennoch stufen sie ihre Entwicklungsbedarfe im Schnitt "nur" als mittel bis hoch, also nicht als "sehr hoch" ein. Dies lässt zwei Folgerungen zu: Entweder ist die Digitalisierung bei ihnen bereits sehr weit vorangeschritten, oder sie steht bei vielen (noch) nicht ganz oben auf der Agenda. Wir neigen deutlich zur zweiten Hypothese. Denn die Potenziale des digitalen Wandels sind in weiten Bereichen der Caritas-Arbeit noch nicht ausgeschöpft. Lässt man einmal die klassische Informationstechnologie - also etwa die IT-Unterstützung interner Prozesse - außen vor, so sind bei Themen wie mobiles Arbeiten, digitale Integration von Klienten und Angehörigen oder Anwendungen aus den Bereichen Internet der Dinge, Big Data, Künstliche Intelligenz oder Robotik meist noch nicht einmal erste Anfänge gemacht. Und selbst bei der klassischen IT tun sich bei genauerem Hinsehen oft noch beträchtliche Optimierungspotenziale auf. Bedenklich stimmt auch der aus der Allgemeinen Sozialberatung und den existenzsichernden Hilfen gemeldete geringe Digitalisierungsbedarf. Denn insbesondere bei den Zielgruppen dieser Angebote stellt die Verwirklichung digitaler Teilhabe eine große Herausforderung dar - auch wenn es aktuell freilich noch kaum Finanzierungsquellen dafür gibt.
Nachvollziehbar ist, dass der Personalentwicklung hohe Priorität zugebilligt wird. Denn der digitale Wandel kann nur mit Akzeptanz und Know-how aufseiten der Mitarbeitenden gelingen. Dagegen erstaunt, dass der Entwicklungsbedarf im Bereich der Klientenarbeit aus Sicht der Verantwortlichen einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnimmt. Hier vermuten wir, dass es manchen Leitungskräften wohl noch an Wissen über konkrete Einsatzszenarien und -chancen mangelt. Doch genau an diesem Punkt lauern enorme Risiken: Amazon, Google und Co. arbeiten bereits an Portal- und Dienstleistungsmodellen, die den Verantwortlichen in der Wohlfahrtspflege bald Schweißperlen auf die Stirn treiben könnten.
Deutlich zeigt die Studie auch, dass sich viele Einrichtungen bei der Digitalisierung mannigfaltige Unterstützung durch den DiCV wünschen. Das stellt nicht nur den DiCV Münster vor große Herausforderungen, denn schließlich gehören die Diözesan-Caritasverbände bislang oft selbst nicht gerade zur Avantgarde der digitalen Transformation. Auch der DiCV Münster muss also zunächst eigenes Know-how aufbauen, um die Mitglieder wirksam unterstützen zu können. Hierfür sind eine klare Strategie und zusätzliche Ressourcen unabdingbar. Doch gerade kleinere Mitgliedseinrichtungen haben wenig Alternativen zur verbandlichen Unterstützung, denn teure Beratungsfirmen können sie sich kaum leisten. Will die Caritas jedoch die Trägervielfalt in ihrem Mitgliederumfeld erhalten, muss sie gerade diesen Trägern unter die Arme greifen. Denn der digitale Reifegrad wird künftig immer stärker über die Marktfähigkeit der Träger, ihre Attraktivität für ehrenamtliches Engagement oder ihren Einfluss auf politische Diskurse entscheiden.
Die Ergebnisse der Befragung dienen nun als Rahmen für die Planung und Umsetzung einzelner Projekte, mit denen der DiCV Digitalisierungsbemühungen der Einrichtungen und Träger unterstützt. Begonnen hat bereits ein Dienstleistungsprojekt zum Datenschutz, in dessen Rahmen der DiCV die Funktion des Datenschutzbeauftragten für angeschlossene Einrichtungen übernimmt; ebenso ist - zusammen mit anderen Diözesan-Caritasverbänden - ein E-Learning-Angebot im Rahmen der Präventionsschulungen in Vorbereitung. Im Bereich der Altenpflege, in dem - wie dargestellt - hoher Digitalisierungsbedarf gesehen wird, wird ab Sommer 2018 die Stelle einer Junior-Professur zusammen mit der Fachhochschule Münster eingerichtet. Weitere Projekte werden aus der Beratung der Ergebnisse in den Gremien des Verbandes und in den Diözesanen-Arbeitsgemeinschaften entstehen.
Anmerkungen
1. An der Studie wirkte ein aus folgenden Studierenden bestehendes Projektteam mit: Tamara Grimm, Kim Hanrieder, Anton Kornbichler, Clemens Schiegerl.
2. Braeseke, G.; Meyer-Rötz, S. H.; Pflug, C.; Haaß, F.: Digitalisierung in der ambulanten Pflege - Chancen und Hemmnisse. Abschlussbericht für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Kurzfassung). Berlin, 2017, S. 10. www.dji.de/themen/medien.html, Abruf am 27.2.2018.
www.divsi.de/wp-content/uploads/2016/06/DIVSI-Internet-Milieus-2016.pdf, Abruf am 28.2.2018.
3. Roland Berger Holding GmbH: Roland Berger Krankenhausstudie 2017 (Kernergebnisse). München, 2017.
4. www.dji.de/themen/medien.html, Abruf am 27.2.2018.
5. divsi.de/wp-content/uploads/2016/06/DIVSI-Internet-Milieus-2016.pdf, Abruf am 28.2.2018.
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