Pflegeausbildung im Zeitalter autonomer und intelligenter Systeme
Das autonome Fahren deutet die Richtung an, in die sich unsere Welt auch im Gesundheitswesen und in der Pflege entwickelt. Die smarten Werkzeuge (vom Medikamententablett bis zum Pflegeroboter) werden selber immer intelligenter und autonomer. Die mannigfaltigen Produkte und Anwendungen der sogenannten "autonomen und intelligenten Systeme" (AIS) sind aber nicht eigenständig, also souverän im philosophischen Sinn, sondern "nur" genauso selbstständig (autonom) und intelligent wie etwa erziehungsfähige und -bedürftige Kinder. Sie setzen sich ihre Regeln und Normen anfangs nicht selber, sondern funktionieren innerhalb eines ihnen eingepflanzten und sie begleitenden Regelwerks, das lern- und entwicklungsfähig ist. So wie wir Menschen unsere Größe und Fehler in unseren Kindern wiedererkennen, so wird das autonome und intelligente Wirken und Handeln der rasch aufkommenden AI-Systeme uns anschaulich die eigenen Vorgaben, oder häufiger und schmerzlicher, unsere Unterlassungen vor Augen führen.
Warum betrifft dies die Pflegeausbildung? Weil sich Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Pflegenden im bereits begonnenen AIS-Zeitalter verschieben. Die neuen AIS bekommen die Plätze, die ihnen zugewiesen werden, und nehmen gleichzeitig die offenen Leerstellen ein. Die den AIS anvertraute Pflegedokumentation zeigt anschaulich, um welche Alternativen es geht. Wird der Pflegende von der von ihm mitgefütterten Dokumentation gesteuert oder umgekehrt? Es geht um nichts weniger als um die Rolle der Pflege, die in der Ausbildung explizit und implizit mitfestgelegt und kodiert wird.
Für eine Pflege, die Menschlichkeit gestaltet
Die Pflege und ihre Ausbildung sollten das Aufkommen von AIS nutzen, um sich weiter aus ihrer Unterordnung und Fremdbestimmung zu emanzipieren. Die sogenannten Nebenschauplätze und -fächer wie Kommunikation, Leitung und Ethik werden bei diesem Prozess entscheidend sein. Im digitalen Zeitalter sind neue und angepasste alte Kompetenzen erfordert. Zentral sind spezifische Querschnittskompetenzen, die eine gesunde Integration der vorhandenen und sich rasch ausweitenden AIS im Kranken-, Alten- und Behindertenbereich aus der Sicht einer menschenfreundlichen und selbstbewussten Pflege ermöglichen und fördern.
Die beiden Leitthemen einer zukunftsorientierten Pflegeausbildung lauten Ethik und Leadership. Um diese beiden innerlich zusammenhängenden Dreh- und Angelpunkte wird sich ein gerade auch für junge und verantwortungsbewusste Menschen immer noch attraktiver Beruf gelebter Menschlichkeit weiterentwickeln. Ethik ist die gelernte Kunst, nachvollziehbare und vernünftige Entscheidungsprozesse in die Wege zu leiten und zu begleiten. Leadership ist die gelernte Kunst, Leitung verantwortlich von unten oder von oben, aus der Mitte oder vom Rand kooperativ kritisch zu übernehmen.
Als ethische Leader am Krankenbett, im Alten- oder Behindertenheim sind die Pflegenden der aktive und greifbare Garant für eine von Menschen organisierte menschliche Pflege, die alle ihnen zur Verfügung stehenden Systeme sinnvoll einsetzt, um den Patienten gut zu pflegen. Sie stehen dafür gerade, dass Entscheidungen nachvollziehbar dem persönlichen Wohl des Pflegebedürftigen dienen. In diesem "Inter-Esse" (Dazwischensein) brauchen sie vier spezifische Schlüsselkompetenzen, wie sie zurzeit etwa Papst Franziskus wirkmächtig vorlebt1: das besonnene Übersetzen, das kluge Vermitteln, das gerechte Entwickeln und die mutige Anwaltschaft.
Schlüsselkompetenz: besonnenes Übersetzen
Die Pflegenden der Zukunft werden wie bisher aktiv Verantwortung für die Sicherheit und das Wohl der Patient(inn)en und Bewohner(innen) übernehmen. Dabei kommen ihre interkulturelle und interprofessionelle Kompetenz, ihr datenbezogenes und technisches Know-how zum Tragen. Dort, wo keine Übersetzung gebraucht wird, kann getrost ein Mechanismus oder Algorithmus eingesetzt werden. Das wird zur Entlastung des Personals und der Kranken oder Betreuten beitragen.
Die Grauzonen und Ermessensspielräume hingegen können nur durch ethische, also freie und mit Risiko behaftete Entscheidungen aufgelöst werden. Hier sind die Vernunft und das - gerne auch maschinell unterstützte - Wissen der professionell pflegenden Menschen gefordert, um Entscheidungen herbeizuführen. Immer mehr Daten und Informationen müssen menschlich verständlich in die Lebenswelt der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen übersetzt werden. Umgekehrt müssen Ängste und Hoffnungen besonnen in von Erfahrung abgedeckte Pflegestrategien übersetzt und im Pflegeteam klug vermittelt werden.
Schlüsselkompetenz: kluge Vermittlung
Vermittlung ist einem gemeinsamen Ziel verpflichtet und sucht den klugen Ausgleich zwischen den möglichen Varianten der Pflege. Welche gesundheitlichen Risiken lohnt es sich um der persönlichen Integrität willen anzugehen und welche kann man - gemessen am Preis, den sie dem Pflegebedürftigen abverlangen - praktisch außer Acht lassen? Nicht wenige der gesundheitlichen Konflikte spiegeln sich im Meinungsspektrum des Beziehungsumfeldes wider und bekommen so einen sozialen Charakter. Die Söhne wollen, dass die terminal kranke Mutter kurativ weiterbehandelt wird; die Töchter wollen, dass nun palliative Pflege eingeleitet wird.
Der gute Vermittler lässt sich nicht in Konflikte hineinziehen oder dazu hinreißen, diese anstelle des Betroffenen zu lösen. Er versucht vielmehr, einen kreativen Ausweg auf einer neuen, höheren Ebene ins Gespräch zu bringen. Hier sind wiederum die Grundkompetenzen von Ethik und Leadership in der Rolle des Vermittlers gefordert.
Schlüsselkompetenz: gerechter Entwickler
Der kranke oder aus dem Lot geratene Mensch schwankt in seiner Wahrnehmung zwischen Ideen und Wirklichkeiten, Vorstellungen und Fakten. Werde ich wieder tanzen oder Ski fahren können? Werde ich wieder allein wohnen oder atmen können? Auf einer angeschlagenen Person lastet der Zweifel, ob sie ihren Gefühlen, Gedanken und Realitäten noch trauen kann. Sie braucht einen realitätsnahen Entwickler, der hilft, das, was realistisch noch oder wieder geht, (wiederum) zu lernen und anzunehmen. Dort, wo die eigenen Ideen fehlen, braucht sie jemanden, der mit guten und realistischen Vorstellungen zu Hilfe kommt.
Der Pflegende als gerechter Entwickler im Gesundheitswesen wird der Wirklichkeit mehr trauen als hehren Ideen und Wunschvorstellungen. Er wird dem kranken, alten oder behinderten Menschen helfen, seine aktuelle und künftige Wirklichkeit im Rahmen des Möglichen weiterzuentwickeln und anzunehmen.
Schlüsselkompetenz: mutiger Anwalt!
In einer Welt von ungeheuren Datenmengen und immer neu hinzukommenden Informationen ist es wichtig, den Überblick zu behalten und dem Ganzen mehr Gewicht einzuräumen, als einzelnen, noch so wichtigen Teilen. Im Zeitalter der Digitalisierung wird der Pflegende die Kompetenzen eines mutigen Anwalts brauchen, der immer den ganzen Menschen im Blick hat und dank seines Pflegewissens in der Lage ist, die Teile aktiv in das Gesamtbild einzuordnen.
Die exzellenten Pflegenden von heute und morgen sind Pflegepersonen, die gekonnt auch mit den technischen, autonomen und intelligenten Systemen als Pflegekräfte kooperieren, indem sie das ganze System der Pflege um den Patienten als ethische Leader gestalten.
Pflegende Ärzte werden die vier spezifischen Schlüsselkompetenzen zu schätzen und zu nutzen wissen, denn sie sorgen dafür, dass Menschen das wichtigste "Interface" (Angesicht) im Ablauf der Pflege sind. Um den kranken, alten oder behinderten Menschen herum werden mehr denn je Professionelle gebraucht, die als ethische Leader für die Kernaufgaben einer integralen und integrierten Pflege im Dienste der Menschlichkeit stehen, weil sie in der Lage sind, kompetent besonnen zu übersetzen, klug zu vermitteln, gerecht zu entwickeln und mutige Anwälte der Humanität sind.
Anmerkung
1. Gillen, E.: Gesund geführt im Krankenhaus. Die Papst Franziskus Formel. 2. erweiterte Auflage, Zürich, 2017, ISBN 978-3-643-90875-9.
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