Ehrenamt und Freiwilligen-Engagement mit Mindestlohn?
Im Oktober 2016 hat der Deutsche Caritasverband (DCV) seine Position zur Monetarisierung im Ehrenamtlichen veröffentlicht und dabei einen "irritierenden Umgang mit dem Begriff Ehrenamt" festgestellt.2 Was bedeutet dies? Ein Beispiel hierfür findet sich im Fachverband "Zukunft Familie" des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der Fachverband ist unter anderem Träger von organisierten Nachbarschaftshilfen. Die organisierte Nachbarschaftshilfe ist "ein kirchlicher Dienst, in dem freiwillig Engagierte stundenweise tätig sind"3. Dabei weist die Website des Fachverbandes über 5000 freiwillig engagierte Helfer(innen) aus.4
Ehrenamtliches/Freiwilliges Engagement ist dadurch gekennzeichnet, dass Engagierte eine Vergütung grundsätzlich nicht erwarten - so die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Die Ausübung von Ehrenämtern diene, so das BAG, nicht der Sicherung oder Besserung der wirtschaftlichen Existenz. Sie sei vielmehr Ausdruck einer inneren Haltung gegenüber den Belangen des Gemeinwohls.5 Die Position des DCV entspricht dieser Charakterisierung. So wird unter anderem festgestellt: "Ehrenamtliche erbringen Dienste und Leistungen, schaffen materielle Werte, denen keine monetären Gegenleistungen gegenüberstehen."6 Bereits die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" des Deutschen Bundestags hatte in ihrem Bericht im Jahr 2002 darauf verwiesen, dass "bürgerschaftliches Engagement […]nicht auf materiellen Gewinn gerichtet [ist]" und es nicht dazu diene, "ein monetäres Einkommen zu erzielen oder den eigenen Nutzen zu erhöhen oder sogar zu maximieren".7
Zurück zum Fachverband "Zukunft Familie": Auf dessen Website findet sich für die Organisierte Familienhilfe der Hinweis: "Die Organisierte Nachbarschaftshilfe ist ein kirchlicher Dienst, in dem freiwillig Engagierte stundenweise tätig sind."?8
Die Annahme, dass es sich hier um ein ehrenamtlich und freiwillig getragenes unentgeltliches Angebot handelt, trifft die Realität allerdings nicht. So wird für die Inanspruchnahme ein Eigenbetrag erhoben, der auch zur Deckung der Aufwandsentschädigungen und für Fortbildungsmaßnahmen der Engagierten eingesetzt wird. "Die Höhe der Gebühren legt die jeweilige Nachbarschaftshilfe vor Ort fest, entsprechend den Empfehlungen von Zukunft Familie e. V. Unser Fachverband empfiehlt für Einsätze in der Nachbarschaftshilfe eine Kostenerstattung, die max. € 9,25 pro Einsatzstunde umfasst."9 In welcher Höhe sich nun der zu erbringende Eigenbetrag pro Stunde jeweils konkret vor Ort bewegt, kann hier nicht gesagt werden. Hinsichtlich der Aufwandsentschädigung zeigen aber die Ergebnisse einer Befragung10, dass an nahezu allen Einsatzorten eine finanzielle Aufwandsentschädigung nach Stunden bis zur Höhe der Übungsleiterpauschale (2400 Euro/Jahr) gewährt wird.
Wenn in derselben Befragung festgestellt wurde, dass bezogen auf die Dauer des Engagements "bei 20 Stunden/Monat eine scheinbar unsichtbare Grenze besteht, die viele Engagierte nicht überschreiten"11, liegt der Schluss nahe, dass ein ehrenamtliches/freiwilliges Engagement in der Organisierten Nachbarschaftshilfe mit einer "Stundenvergütung" von circa zehn Euro einhergeht (2400 Euro/Jahr im Verhältnis zu 240 Engagementstunden/Jahr).
Hinweise auf Orientierung am Mindestlohn
Von Interesse in diesem Kontext ist zudem: Wie sich bei der Frage nach der Angemessenheit der Aufwandsentschädigung zeigte, gaben etwas mehr als die Hälfte der befragten ehrenamtlich/freiwillig Engagierten an, "dass die Aufwandsentschädigungen im Verhältnis zur Tätigkeit stehen. Knapp 40 Prozent empfinden jedoch, dass die Geldzahlungen zu niedrig sind."12
Angesichts einer Stundenvergütung von circa zehn Euro/Stunde kann aber nicht mehr von einem unentgeltlichen Engagement gesprochen werden (Mindestlohn 2017: 8,84 Euro/Stunde). Wenn darüber hinaus knapp 40 Prozent der ehrenamtlich/freiwillig Engagierten die Geldzahlungen als zu niedrig empfinden, kommen zudem Zweifel auf, ob nicht doch eine aufgewendete Engagementzeit "in Geldwert (um)gerechnet [wird] und damit der Logik einer auf Entgelt ausgerichteten Beschäftigung folgt"13. Damit wäre ein Widerspruch zum Verbandsverständnis wie auch zum allgemeinen öffentlich propagierten Ehrenamtsverständnis gegeben.
Aber nicht nur im Caritas-Fachverband "Zukunft Familie" existiert eine irritierende Situation mit Blick auf das Verständnis ehrenamtlichen/freiwilligen Engagements. In aller Kürze drei weitere Beispiele/Hinweise:
Bezogen auf die "ehrenamtliche Mitarbeit" in der anthroposophisch fundierten Arbeit der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lautenbach findet sich auf deren Website auf die Frage "Wie hoch ist eine eventuelle Entschädigung?" folgende Antwort: "Darüber kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Tätigkeit nur als ‚reines‘ Ehrenamt zu betrachten ist, wenn es dafür lediglich eine Unkostenvergütung gibt. In manchen Fällen könnte eine Einigung auf Auszahlung der Unkostenpauschale angestrebt werden, in anderen Fällen wäre es möglich, über eine Stundenvergütung zu reden."14 Fazit: Ein "unreines" ehrenamtliches Engagement mit individuell vereinbarter Stundenvergütung scheint also durchaus möglich und dürfte auch real existieren.
Beim Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Bayern findet sich auf dessen Website in der Rubrik Lexikon unter "Stundensätze" folgender Hinweis: "Für die Höhe der Stundensätze bei unterschiedlichen ehrenamtlichen Tätigkeiten gibt es keine allgemein verbindlichen Regelungen; sie liegen in der Regel wesentlich niedriger als die Vergütung von hauptamtlichen Kräften. Manche Verbände, Institutionen und Einrichtungen haben feste Stundensätze für Betreuungen, Führungen u. ä. ehrenamtliche Tätigkeiten vereinbart."15 Fazit: Ehrenamt und Stundenvergütung sind kein Widerspruch. Eine Stundenvergütung für ehrenamtliche Tätigkeiten hängt vielmehr von der Art der Tätigkeit ab und könnte, da sie zwar wesentlich unter der Vergütung von Hauptamtlichen liegen sollte, durchaus noch über dem gesetzlichen Mindestlohn angesiedelt sein.
Auch im Bereich des ehrenamtlichen/freiwilligen Engagements im Vor- und Umfeld von Betreuung und Pflege ist eine stundenbezogene Honorierung nicht unüblich. So zeigt eine explorative Studie in Hessen, dass für ehrenamtlich getragene Angebote nach § 45 c und 45 d SGB XI Stundenvergütungen "bis zu
12 Euro erwähnt (werden)".16 Fazit: Auch hier finden sich Formen eines ehrenamtlichen/freiwilligen Engagements, in welchen von einer reinen "Aufwandsentschädigung" eher nicht gesprochen werden kann.
Geht verlässliches Ehrenamt ohne Stundenvergütung?
Deutlich wird, dass in Angebotsfeldern, die hohe Verlässlichkeit und Planungssicherheit brauchen, sich ehrenamtliches/freiwilliges Engagement zunehmend nicht mehr an einer reinen beziehungsweise pauschalierten Aufwandsentschädigung zu orientieren scheint. Hier finden sich oftmals Stundenvergütungen, die sich nicht selten nahe dem oder auch über dem gesetzlichen Mindestlohn bewegen und als notwendig eingeschätzt werden, um Personen für ein Engagement zu gewinnen.
Am Beispiel der Organisierten Familienhilfe zeigt sich, dass hier Engagierte zwar in erster Linie anderen Menschen helfen möchten, sich diese Hilfeleistung bei circa 70 Prozent der Engagierten aber primär im Bereich der hauswirtschaftlichen Unterstützung (Wohnung reinigen, einkaufen, Wäsche, Mahlzeiten zubereiten) niederschlägt.17 Vor dem Hintergrund, dass Hilfebedürftige für diese unterstützenden Dienstleistungen im Alltag eine Kostenerstattung pro Einsatzstunde erbringen, wandelt sich der ursprüngliche Charakter einer unentgeltlichen Hilfe für andere zu einer hauswirtschaftlichen Dienstleistung, wie sie zum Beispiel auch von gewerblichen Pflegediensten erbracht wird.
Darüber hinaus weisen die Ergebnisse des letzten Freiwilligensurveys für Deutschland aus dem Jahr 2014 darauf hin, dass Engagierte immer weniger Zeit fürs Ehrenamt verwenden. Parallel hierzu sank der Anteil derer, die ihr Engagement täglich oder mehrmals pro Woche ausüben, von 35,7 Prozent im Jahr 2004 auf 23,4 Prozent im Jahr 2014.18
Engagement wird flexibler, die Fluktuation Engagierter steigt. Dies erschwert die Sicherung verlässlicher, nachhaltiger sozialer Dienstleistungsangebote auf Basis eines ehrenamtlichen/freiwilligen Engagements, wie sie von Hilfebedürftigen zunehmend nachgefragt werden.
Der Blick auf die Praxis legt also insgesamt nahe, dass ein verlässliches und nachhaltiges Ehrenamt einerseits immer weniger möglich scheint und andererseits Stundenvergütungen als Instrument der Stärkung der "Engagement-Verbindlichkeit" genutzt werden. Für das ehrenamtliche/freiwillige Engagement insgesamt ist diese Entwicklung nicht ungefährlich, da das Label "Durch ehrenamtliches und freiwilliges Engagement erbracht" für ein "bezahltes Ehrenamt" nicht gelten kann. Ehrenamtliches/Freiwilliges Engagement kommt so zunehmend in den Sog der Monetarisierung und zerfällt in ein Zweiklassenengagement: erste Klasse - unentgeltlich oder mit reiner Aufwandsentschädigung; zweite Klasse - mit Vergütung.
Lösungsvorschlag "soziales Teilhabe-Engagement"
Somit stellt sich die Frage, warum dort, wo soziale Dienstleistungen gegen Stundenvergütung erbracht werden, weiterhin die Begriffe "Ehrenamt" und "Freiwilliges Engagement" genutzt werden. Könnte hier ein vergütetes verlässliches soziales Engagement ohne Arbeitsvertrag als neue intermediäre Engagementform - zwischen Ehrenamt/Freiwilligenarbeit und beruflicher Tätigkeit - eine mögliche Lösung sein? Zum Beispiel in der Kategorie eines "sozialen Teilhabe-Engagements"? Denn über Engagement soziale Teilhabe zu erfahren, kann auch ohne Monetarisierung zu einer hohen Motivation für eine ehrenamtliche/freiwillige Tätigkeit führen, wenn dafür attraktive Rahmenbedingungen gestaltet werden.
Eine diesbezügliche Debatte scheint unvermeidbar. Wichtig wäre aber, dass sich an dieser Diskussion nicht nur Akteure der "reinen Lehre" eines unentgeltlichen Engagements, sondern auch Befürworter(innen) eines vergüteten Engagements beteiligen. Nur so ist das "Dilemma des bezahlten Ehrenamts" lösbar.
Anmerkungen
1. Der Beitrag gibt allein die persönliche Meinung des Autors wieder.
2. Impulspapier "Ehrenamt ist unentgeltlich". Position des DCV zur Monetarisierung im ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement. In: neue caritas Heft 4/2017, S. 31.
3. www.zukunft-familie.info/uploads/content/download/11/Leitbild_Nachbarschaftshilfe.pdf
4. Vgl. www.zukunft-familie.info
5. Vgl. Rechtstelegramm für die Vereins- und Verbandsarbeit der Führungsakademie des Deutschen Olympischen Sportbunds, 2014, Nr. 17 (Download unter www.fuehrungs-akademie.de).
6. DCV-Impulspapier, a. a. O., S. 32.
7. Deutscher Bundestag: Bericht der Enquete-
Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements". Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Berlin 2002, S. 38.
8. Leitbild, Download s. Fußnote 3.
9. www.zukunft-familie.info/pages/kosten (letzter Zugriff: Januar 2018)
10. Institut für angewandte Sozialwissenschaften: Organisierte Nachbarschaftshilfen im Wandel: Engagementverständnis und Aufwandsentschädigung auf dem Prüfstand. Stuttgart, November 2016.
11. Ebd., S. 31.
12. Ebd., S. 44.
13. DCV-Impulspapier, a. a. O., S. 32.
14. www.lautenbach-ev.de/wp-content/uploads/2016/10/Lautenbach_Ehrenamt_FAQ.pdf
15. www.lbe.bayern.de/service/lexikon/neue/24993/index.php
16. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (Hrsg.): Zur Bedeutung und Praxis von Aufwandsentschädigungen in Hessen. Freiwilliges Engagement und Monetarisierung im Vor- und Umfeld von Betreuung und Pflege. Wiesbaden, 2017, S. 39.
17. Institut für angewandte Sozialwissenschaften: a. a. O., S. 36.
18. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Berlin, 2016, S. 329.
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