Lässt sich der Fachkräftemangel durch gezielte Arbeitsmigration lösen?
Deutschland ist zur Sicherung des Wohlstands und zur Gestaltung der sozialen, digitalen und ökologischen Transformation auf internationale Arbeits- und Fachkräfte angewiesen. Unternehmen klagen über unbesetzte Stellen, alternde Belegschaften und rückläufige Ausbildungszahlen. Im Spätsommer 2023 sprach das Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) von bundesweit 1,74 Millionen offenen Stellen.1
Die Unternehmensbefragung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Civey2 erhebt die aktuellen Fachkräfteengpässe bei Unternehmen bei 70 Prozent, besonders bei Personen mit Berufsausbildung und in den Bereichen Alten- und Krankenpflege, Tourismus, Bauwesen und Handwerk. Trotz dieser hohen Bedarfe rekrutieren Unternehmen sehr zurückhaltend im Ausland (nur knapp 17 Prozent). Nicht einmal jedes zwanzigste Unternehmen wirbt Auszubildende aus dem Ausland an. Als Hauptgründe werden Schwierigkeiten in den Bereichen Spracherwerb und Verständigung sowie bei der Einschätzung ausländischer Qualifikationen angegeben.
Eine nachhaltige Sicherung des Fach- und Erwerbskräfteangebots kann angesichts dessen nur durch einen umfassenden Ansatz gelingen: Zum einen muss das inländische Fachkräftepotenzial gefördert, zum anderen muss eine faire Erwerbs- und Ausbildungsmigration gestärkt und der Arbeitsmarkt für internationale Arbeitskräfte zugänglicher werden. Ausländer:innen leisten schon jetzt einen unverzichtbaren Beitrag zur Fachkräftesicherung - besonders in Engpassberufen.3
Der Zuwanderungsbedarf zum Erhalt eines ausreichenden Erwerbspersonenpotenzials wird je nach Studie unterschiedlich beziffert. Eine Modellrechnung, die Digitalisierungseffekte und den demografischen Wandel in der EU berücksichtigt, geht davon aus, dass bis 2060 im Durchschnitt eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 260.000 Personen erforderlich sei, davon 114.000 EU-Staatsangehörige und 146.000 Drittstaatsangehörige.4 Gezielte Arbeitsmigration aus Drittstaaten, die nicht zur Europäischen Union gehören, ist damit unverzichtbar.
Wer kommt zum Erwerb nach Deutschland?
Tatsächlich erreichte die Erwerbszuwanderung aus Drittstaaten im Jahr 2022 mit gut 71.000 Personen einen neuen Höchststand, 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Neben der Erholung nach der Covid-19-Pandemie ist dies vermutlich Ergebnis der neuen Möglichkeiten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes (FEG), das seit März 2020 Erwerbs- und Fachkräftemigration erleichtern soll. Prozentual fiel die verstärkte Erwerbsmigration im Kontext der Rekordzuwanderung 2022 allerdings kaum ins Gewicht. Rund 1,1 Millionen Geflüchtete, insbesondere aus der Ukraine, aber auch die außereuropäische Familien- und Bildungsmigration sowie die Migration zu sonstigen Zwecken erreichte mit rund 743.000 Personen einen neuen Höchststand (s. Abb. li.).
Die Mehrzahl der Erwerbsmigrant:innen aus Drittstaaten kommen aus Europa und Asien. Rund 40 Prozent stammen aus Europa außerhalb der EU. Dabei fallen viele Staaten des westlichen Balkans ins Gewicht, deren Staatsangehörige vor allem über die sogenannte Westbalkanregelung einreisen. Weitere 40 Prozent kommen aus Asien, was vor allem auf die hohe Migration aus Indien und der Türkei zurückzuführen ist. Zusammen mit Russland stellen diese Staaten die Top Drei der Herkunftsstaaten für Erwerbsmigration dar. Diese Fachkräfte kommen zum größten Teil über Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte, vor allem die Blaue Karte EU, nach Deutschland.
Die Zahl der Personen, die im Rahmen der EU-Binnenmobilität nach Deutschland einwandern, ist seit Jahren rückläufig, auch wenn dieser Trend 2022 zum ersten Mal gestoppt wurde. Knapp zwei Drittel davon, gut 300.000 Personen, kamen aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Aufgrund der EU-Freizügigkeit ist keine Differenzierung nach Aufenthaltstiteln möglich, doch ist davon auszugehen, dass der größte Teil dieser Personen als Arbeits- und Fachkräfte tätig wird.
Zunehmend gewinnt Deutschland auch Fachkräfte über Statuswechsel, das heißt Personen, die sich bereits im Land befinden, zum Beispiel zur Arbeitsplatzsuche (2022: 6440), für ein Studium (2022: 16.600) oder zu Ausbildungsmaßnahmen (2022: 11.200), und dann in einen Aufenthaltstitel für Fach- und Erwerbskräfte wechseln. Auch über nachziehende Ehegatt:innen kommen potenzielle Erwerbskräfte nach Deutschland.
Insgesamt sind Frauen nur mit etwa 30 Prozent an der Erwerbsmigration aus Staaten außerhalb der EU beteiligt. Allerdings variiert der Frauenanteil stark nach Aufenthaltstiteln. Während bei den Personen mit Berufsbildung - vermutlich zu einem großen Teil Alten- und Krankenpfleger:innen - der Frauenanteil über 50 Prozent beträgt, liegt er bei der Blauen Karte EU und im internationalen Personalaustausch mit 28 beziehungsweise 20 Prozent besonders niedrig.
Tatsächlich verlassen bis zu einem Drittel der eingewanderten Fachkräfte Deutschland wieder, teilweise nach kurzen Aufenthaltszeiten, vor allem Hochqualifizierte. Der Anteil der Fortziehenden ist im Vergleich zu den Jahren 2018/2019 um gut ein Fünftel gesunken. Bisher gibt es wenig Forschung über die genauen Zusammenhänge. Eine Befragung im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit (IAW 2022)5 identifiziert als zentrale Abwanderungsgründe eine fehlende Anerkennung von beruflichen Qualifikationen, das begrenzte Aufenthaltsrecht, aber auch Aspekte sozialer Integration und Diskriminierung.
FEG-Weiterentwicklung ist richtig
Mit dem erweiterten FEG hat die Bundesregierung im Juni 2023 das Erwerbsmigrationsrecht weiter liberalisiert. Darin ist geregelt, dass Personen mit qualifizierten Berufs- und Hochschulabschlüssen bei einer Arbeitsplatzzusage auch ohne eine Gleichwertigkeitsprüfung der Abschlüsse zuwandern und arbeiten können. Ebenso werden die Voraussetzungen für die Erteilung der Blauen Karte EU gesenkt. Schließlich wird über ein Punktesystem ein Kontingent für ausländische Arbeitskräfte eingeführt ("Chancenkarte"). Die Erweiterung der Zugangswege ist ein wichtiges Signal für Fachkräfteeinwanderung im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interesse Deutschlands.
Neben einer wirksamen administrativen Umsetzung des neuen Rechtsrahmens, vor allem durch konsequentere Ausstattung der Ausländerbehörden, Digitalisierung und Vereinfachung von Verfahren sowie einheitliche Standards zur Orientierung, sollte der Bereich Spracherwerb ausgebaut und frühestmöglich in der Prozesskette der Fachkräftezuwanderung eingebunden werden. Zudem bedarf es einer arbeitsmarktlichen und gesellschaftlichen Öffnung für Sprachen. Ein großes Potenzial liegt außerdem in der Förderung der Beschäftigungsmöglichkeiten von eingewanderten Frauen vor allem mit Kindern. Zentral ist bei alldem, die transnationale Kooperation zur Fachkräfteentwicklung und -migration nach fairen Standards auszubauen und nachhaltig zu sichern.
Neben der Anwerbung muss nicht zuletzt die Bleibeorientierung der Erwerbs- und Fachkräfte und gegebenenfalls ihrer Familien in den Blick genommen werden. Die Bemühungen um eine internationale Fachkräftegewinnung dürfen nicht dazu führen, dass der Schutz der Arbeitnehmer:innen ausgehebelt wird und eine prekäre, ausbeutbare Schicht von Arbeitsmigrant:innen entsteht.6 Dies gilt insbesondere für Arbeitskräfte unterhalb des Fachkräfteniveaus, die durch das erweiterte FEG erstmals Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Die erleichterte Einbürgerung, wie sie mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehen ist, sowie das Chancenaufenthaltsrecht sorgen zudem für eine strukturelle Besserstellung von Zugewanderten in Deutschland. Auch die seit März 2024 in Kraft getretenen Erleichterungen beim Familiennachzug dürften zu einer höheren Attraktivität Deutschlands und einer stärkeren Bleibeorientierung von Zugewanderten beitragen. All dies bleibt nur ein Teil eines umfassenderen Ansatzes zur "Lösung" des Fachkräfte- und Personalmangels.
1. Kubis, A.: IAB-Stellenerhebung 1/2023. 1,75 Millionen offene Stellen am Arbeitsmarkt. In: IAB-Forum vom 7. März 2024.
2. Abbate, P.: Fachkräftemigrationsmonitor 2023. Fachkräfteengpässe von Unternehmen in Deutschland, Trends und Potenziale zum Zuzug ausländischer Fachkräfte. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2023.
3. Hickmann, H.; Jansen, A.; Pierenkemper, S.; Werner, D.: Ohne sie geht nichts mehr. Welchen Beitrag leisten Migrant_innen und Geflüchtete zur Sicherung der Arbeitskräftebedarfe in Fachkraftberufen in Deutschland? In: FES diskurs. Bonn, November 2021.
4. Fuchs, J.; Kubis, A.; Schneider, L.: Zuwanderung und Digitalisierung. Wie viel Migration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig? Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2019.
5. IAW: Abschlussbericht Vorstudie zur Abwanderung von ausländischen Fachkräften im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e. V. (IAW), Tübingen SOKO Institut, Bielefeld, 31. Oktober 2022.
6. Kolb, H.: Neue Risiken prekärer Beschäftigung? Zu alten und neuen Instrumenten in der Erwerbsmigrationspolitik und was sie für den Arbeitnehmerschutz bedeuten. In: SVR-Kurzinformation 6/2023.