„Der Weg der Integration ist ein Langstreckenlauf“
Der Fachkräftemangel macht nichts als Probleme? Nicht nur. In der aktuellen Situation liegt auch eine Chance. Insbesondere seit dem Inkrafttreten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes am 1. März 2020 haben sich die Möglichkeiten, Auszubildende und Fachkräfte aus Drittstaaten in caritativen Einrichtungen und Diensten zu beschäftigen, deutlich und in rasanter Geschwindigkeit verbessert.
Das Modell "Schwesternwohnheim 2.0", mit dem die Einrichtungen und Dienste im Westerwald- und im Rhein-Lahn-Kreis erfolgreich sind, erhielt 2023 den Innovationspreis (1. Platz) des VKAD - Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland.
Der Caritasverband geht den Weg der generalistischen Pflegeausbildung mit Auszubildenden aus Drittstaaten. Die meisten kommen aus Marokko. Sie bringen eine qualifizierte Schulbildung mit, einige haben bereits einen Bachelor-Abschluss. Sie sind gebildet, engagiert und motiviert, den Pflegeberuf zu erlernen. Sie haben gute Deutschkenntnisse, vermittelt durch eine seriöse Sprachschule. Marokko hat einen Jugendquotienten von 50 Prozent und eine Jugendarbeitslosigkeit in Höhe von 30 Prozent.
Es ist klar, dass die Integration kein leichter Weg ist. Dabei orientiert sich die Caritas Westerwald-Rhein-Lahn an der Erkenntnis von Max Frisch von 1965: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen." Und genauso ist es auch: Es kommen junge, gebildete Menschen mit Wünschen für ihr Leben und Ideen, wie sie leben und arbeiten möchten: so, wie man es auch von den eigenen Kindern kennt. Eine Einsicht der Caritas lautet daher: "Wir übernehmen Verantwortung für ,Anderleutskinder‘!"
Die Neuankommenden haben keine soziale Infrastruktur
Und klar ist auch: Keiner kann sagen, wie es gelingen kann. Es gibt noch nicht auf alle Fragen eine vorformulierte Antwort. Das Motto der Caritas lautet daher: "Wir wissen nicht, wo es langgeht, aber alle denken mit." Der Weg der Integration ist ein Langstreckenlauf. Dabei gehören große und kleine Herausforderungen selbstverständlich dazu und sind Teil des Weges. Denn Neuankommende haben keine soziale Infrastruktur und benötigen vielfältige Unterstützung in vielen Lebensbereichen.
Hilfreich ist, eine Haltung einzunehmen, die man als "anthropologisches Interesse" bezeichnen könnte, soll heißen, nicht alles zu "katastrophisieren", sondern Ereignissen und neuen Erfahrungen mit Interesse zu begegnen. Wichtige Erfahrungen der Caritas sind: Man muss die Pflegeschulen mit ins Boot bitten. Ein guter Kontakt zu allen Lehrenden ist sinnvoll und erforderlich. Ebenso müssen alle Akteure in den Einrichtungen mit auf den Weg genommen und gut vorbereitet werden. Die Leitungen, Praxisanleitungen und die Kolleg:innen können eine positive Haltung einnehmen und miteinander Diversity-Kompetenzen entwickeln.
Und: Der erste Eindruck kann nicht nachgeholt werden. Ein herzliches Willkommen ist wichtig für die Vertrauensbildung. Es lohnt sich, die Wohnräume für die Auszubildenden freundlich und durchdacht einzurichten, an einen Obstkorb oder einen gefüllten Kühlschrank zu denken, ab und an eine Tasse Tee miteinander zu trinken und ein bisschen zu plaudern - eine kostengünstige und sehr erfolgreiche Integrationsmaßnahme. Jeder Standort sollte ein eigenes Begrüßungs-, Integrations- und Mobilitätskonzept erarbeiten. Die Integration von internationalen Auszubildenden und Fachkräften bietet eine Win-win-Situation für beide Seiten. Das Portal "Make it in Germany" betont die Bereicherung für Unternehmen durch vielfältige Erfahrungen und interkulturelle Kompetenzen. "Aber gibt es denn nicht kulturbedingte Vorbehalte gegen weibliche Führungskräfte?!" Diese Annahme können wir nicht bestätigen. Im Einzelfall begegnen wir auch mal einem "anspruchsvolleren Charakter". Doch das gilt für alle Nationalitäten und genauso für Azubis aus der Region. Klare Führung, Fingerspitzengefühl und manchmal etwas Nachsicht hilft auf lange Sicht, ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Es gibt Zeit, um hier anzukommen
Das Konzept der Caritas Westerwald-Rhein-Lahn startet vor der dreijährigen Ausbildung mit einer geschützten Integrationszeit und bietet Interessent:innen entweder ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) oder ein in den Ausbildungsvertrag integriertes dreimonatiges ausbildungsvorbereitendes Praktikum an. Dabei gelten für das Praktikumsmodul die gleichen Bedingungen wie für Auszubildende im ersten Ausbildungsjahr. Die Refinanzierung der Personalkosten im Praktikumsmodul übernimmt der Arbeitgeber. Das bietet die wertvolle Möglichkeit für die Auszubildenden, mit den sprachlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen und sich im angestrebten Berufsfeld Pflege zu orientieren. Diese Vorbereitungszeit ist enorm wichtig, um erst einmal anzukommen, bevor der anspruchsvolle schulische Unterricht startet.
Und die Kosten?
Da sich die Interessent:innen unmittelbar bei der Caritas Westerwald-Rhein-Lahn bewerben, zahlt diese keine Vermittlungsgebühren. Kosten fallen an für das Einreisevisum (beschleunigtes Fachkräfteverfahren), für freiwillige Integrationsleistungen sowie begleitende Sprachschulungen. Bei Ankunft erhalten die Auszubildenden 300 Euro Gehaltsvorschuss in bar, um die ersten Lebenshaltungskosten zu decken, sowie ein Secondhand-Laptop. Diese Vorschusskosten werden später über zehn Monate verteilt vom Gehalt einbehalten. Ebenso die Kaution in Höhe von 300 Euro für das WG-Zimmer. Die Azubis erhalten in der Nähe der Einrichtung, in der sie schwerpunktmäßig tätig sein werden, ein Zimmer in einer WG mit einem Werks(unter)mietvertrag. Am Anfang gibt es Beratungsbesuche zur Unterstützung der Haushaltsführung und Moderation des Zusammenlebens.
Der Weg zu einer gastfreundlichen Aufnahmegesellschaft ist noch weit. Dennoch zeigt sich, dass eine Kulturtransformation stattfindet: Bewohnerinnen und Bewohner, Patientinnen und Patienten begrüßen die Azubis herzlich, helfen ihnen mit der Sprache und erzählen gerne, wie das Leben in Deutschland so funktioniert. Schöne Azubi-(Begrüßungs-)Feste, Praxisanleiter-Tagungen und gemeinsame Ausflüge haben eine positive Willkommenskultur im Unternehmen geschaffen.
Wie geht’s weiter?
Das Marokko-Projekt begann mit der Kontaktaufnahme zu einer Sprachschule. Heute werden weitere neue Azubis durch Mitarbeitende und die Azubis selbst vorgeschlagen, zum Beispiel Geschwister oder Verwandte. Insgesamt zeigen die Erfahrungen, dass die Integration internationaler Fachkräfte und Auszubildender nicht nur eine Antwort auf den Fachkräftemangel sein kann, sondern auch eine Bereicherung für die Unternehmenskultur und die gesamte Gesellschaft.
Kulturtransformation
Erfolg ist, wenn alle mitmachen!
Hier einige Stichworte und Tipps, wie sich Einrichtungen und Sozialstationen, Pflegeschulen und viele
Menschen in einer Region auf den Weg zu einer (gast-)freundlichen Aufnahmegesellschaft machen können:
◆ Der erste Tag und die wichtige Frage: "Wie wollen wir unsere Neuankommenden begrüßen?"
◆ Azubi-Begrüßungsfest: Interesse an der jeweiligen Heimat-Kultur zeigen!
◆ Azubi-Samstag: Ins (Fach-)Gespräch kommen beim Speed-Dating und im World Café.
◆ Briefe an ambulant betreute Patient:innen und Angehörige, zum Beispiel mit der Frage:
"Untermieter:in gewünscht?"
◆ Praxisanleiter-Tagung: Interne Multiplikator:innen mitnehmen.
◆ Einladung zum Presse-Brunch: Öffentlichkeitsarbeit in der Region.
◆ Mitarbeiterzeitung, Facebook: Internes Projekt-Marketing.