Wenn sich die alten Wunden melden
Der Anruf des älteren Herrn, der für ein Kinderhilfe-Projekt des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn im ehemaligen Ostpreußen spenden wollte, endet abrupt. "Ich sehe dieses Bild immer wieder vor mir, höre die Schreie." Unter Tränen legt der Mann auf. Was war passiert? Im Frühjahr 1945 musste er als Kind mit seiner Mutter vor der anrückenden Roten Armee fliehen. Im Hafen von Kolberg wartete ein deutsches Marineboot. Während die Flüchtenden auf das Schiff zuliefen, griffen russische Kampflugzeuge an, feuerten in die Menge. Im Chaos legte das Boot hastig ab, Familien wurden schlagartig getrennt. So auch ein anderer kleiner Junge von seiner Mutter. "Der Junge brüllte sich am Anleger die Seele aus dem Leib. Diese Schreie kommen immer wieder bei mir hoch."
Ein Trauma, so die Psychologie, entsteht durch eine existenzielle Bedrohung, die den Menschen in seinen üblichen Bewältigungsmustern überfordert: Man wird nicht "fertig" mit dieser Situation, denn die menschliche Natur hat sich seit grauer Vorzeit eine besondere Strategie für die Verarbeitung solcher Bedrohungen ausgedacht. Das Erleben wird im Tiefen-Gedächtnis in einer Art "Alarm-Schublade" abgespeichert. Nach dem Motto: Um niemals wieder in eine solche Bedrohung zu geraten, wird sie derart umfassend abgespeichert, dass sie fürs ganze Leben abrufbar ist: im "Gedächtnis" des Körpers, der Seele und der Sinne.
Die Folgen von traumatischen Erlebnissen im und nach dem Zweiten Weltkrieg sind lange Zeit verdrängt oder bagatellisiert worden. Erst seit einigen Jahren geraten diese vor allem in Einrichtungen der Altenhilfe, bei pflegenden Angehörigen, aber auch in der offenen Seniorenarbeit oder bei Besuchsdiensten verstärkt in den Blick. Der Grund liegt wiederum in der menschlichen Psyche: Während in den mittleren Jahren des Lebens noch kognitive Kräfte die Verarbeitung und Verdrängung unterstützt haben, gelingt dies im Alter häufig nicht mehr. Schutzfunktionen können nicht mehr bedient werden, die alten Wunden beginnen sich zu rühren. Das Schlimme für Betroffene ist, dass es kein Entrinnen gibt: Sie sind wie in einer Spurrille gefangen, die sie zu den immer gleichen Reaktionen zwingt, so Dr. Udo Baer vom Institut für Soziale Innovationen ISI auf der Website Alter und Trauma (www.alterundtrauma.de).
Fluchterfahrungen äußern sich z. B. in einer massiven Unruhe mit Hin- und Herlaufen, was oft mit Demenz verwechselt wird. Manche Senioren meiden auf der Straße den offenen Himmel, gehen eng an Häuserwänden entlang; die Bilder von Bombenangriffen und Tieffliegern haben sich tief in die Seele eingegraben. Andere horten Lebensmittel, weil dies in der Gefangenschaft oder in den Hungerwintern überlebenswichtig war. Besonders dramatisch ist erlittene sexuelle Gewalt. So weigern sich aus diesem Grund nicht selten ältere weibliche Pflegebedürftige, sich von männlichen Pflegekräften waschen zu lassen.
Außenstehende sollten wissen, welche Wunden sich da rühren. Und sie sollten wissen, dass die meisten Menschen ihr Leben lang allein gelassen wurden mit ihrer Not. Wie können Betroffene wenigstens jetzt, im hohen Alter Unterstützung und Hilfe erfahren? Eine Fachtagung der Caritas-Konferenzen im Erzbistum Paderborn geht dieser Frage am 29. September in Paderborn nach: "Wenn die Zeit nicht alle Wunden heilt - Wie uns Kriegstraumata im Ehrenamt begegnen können".
Infos und Anmeldung
Caritas-Konferenzen im Erzbistum Paderborn, Tel. 05251 / 209-280, Mail ckd@caritas-paderborn.de