Was stärkt das Herz?
Menschen mit Behinderungen und insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten finden bislang kaum Zugang zu Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von physischen Zugangsbarrieren (Fehlen von barrierefreien Räumlichkeiten) bis hin zu kommunikativen Barrieren (Kursangebote ohne Berücksichtigung von einfacher Sprache). Dabei sind Menschen mit Behinderungen einem größeren Krankheitsrisiko ausgesetzt als andere Menschen. Studien zeigen für Menschen mit Lernschwierigkeiten eine deutlich höhere Häufigkeit (Prävalenz) von gesundheitlichen Problemen. Der Krankheitsverlauf ist schwerer und länger, zudem können vermehrt Begleit- und Folgeerkrankungen (Komorbiditäten) auftreten.1
Gesundheitsförderung in den Lebenswelten
Gesundheitsförderung als Handlungsfeld hat durch die Ottawa-Charta2 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1986 einen enormen Aufschwung erfahren. Als Leitmotiv "zielt Gesundheitsförderung auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen". Die WHO plädiert für ein integriertes Konzept von Gesundheitsförderung, eingebettet in den Alltag der Menschen. Die tatsächlichen Lebensräume, die Orte, an denen sich Menschen aufhalten, werden bei der Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt gerückt. In Deutschland findet sich dieser Ansatz wieder im Sozialgesetzbuch V - Gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Der GKV-Leitfaden Prävention beschreibt diese gesetzlich abgedeckten Leistungsarten für die Praxis. Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten nach § 20 a SGB V werden durch die Krankenkassen finanziert.
An der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) entwickelt sich seit dem Jahr 2015 das Projekt "GESUND! Menschen mit Lernschwierigkeiten und Gesundheitsförderung". Das partizipative Projekt3 entwirft Angebote der Gesundheitsförderung für die Zielgruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sieben Beschäftigte aus den Lichtenberger Werkstätten (LWB) und vier Akademiker(innen) arbeiten einen Tag pro Woche an der Hochschule zusammen, um sich im Bereich der Gesundheitsförderung zu qualifizieren und gemeinsam passgenaue Gesundheitskurse für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erarbeiten. Vier Gesundheitskurse wurden und werden gemeinsam konzipiert und geplant, erprobt und evaluiert. Am Ende entstehen Kursangebote zu Gesundheitsthemen, die von Menschen mit Lernschwierigkeiten geleitet werden. Um die potenziellen Teilnehmer(innen) besser zu erreichen, werden die Kurse direkt in der Lebenswelt der Zielgruppe angeboten, zum Beispiel in der Werkstatt für behinderte Menschen oder im Wohnheim.
Kursbeispiel: Herz4
Das erste Kursangebot befasst sich mit dem Thema "Herz". Das Organ mit seiner Funktion für den Körper und mit seiner symbolischen Bedeutung eignet sich in einzigartiger Weise als anschaulicher Einstieg zu weiterführenden gesundheitsspezifischen Themen. Über das Nachdenken "Was stärkt das Herz?" können konkrete Einflussfaktoren unterschiedlichster Art erkannt werden. Bewegung und körperliche Aktivität stärken das Herz, gesunde Ernährung ist förderlich, genauso wie die Vermeidung von Stress sowie Übungen zur Entspannung. Auch gute soziale Beziehungen und Freundschaften stärken das Herz. Als Symbol der Liebe bietet das Herz einen Anlass, um über psychisches Wohlbefinden zu sprechen. Zahlreiche Redewendungen, Sprichwörter und Geschichten verdeutlichen den Zusammenhang zwischen dem Herzen, den eigenen Gefühlen und Beziehungen. Beispiele: "Mir wird warm ums Herz", "sie sind ein Herz und eine Seele" oder das gebrochene Herz bei Liebeskummer.
In einem längeren Arbeitsprozess entstand ein Kursangebot in variablem Zeitumfang von drei bis fünf Stunden. An vier Lernstationen können Kursteilnehmer(innen) themenspezifische Aufgaben lösen. Die Aufgabenstellungen stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang und werden
Gesundheitsförderung eingebettet in den Alltag
jeweils von den qualifizierten Beschäftigten aus der LWB vorgestellt. Diese übernehmen auch die Aufgabe, an den jeweiligen Lernstationen zu moderieren, ganz im Sinne von Peer-to-Peer-Bildung. Fachliche Unterstützung erhalten sie durch die Hochschulmitarbeiter(innen).
Vier Lernstationen im Überblick
- Herz und Organe
Hier kommt ein Augmented-Reality-("erweiterte Realität")-T-Shirt zum Einsatz. Mit Hilfe des T-Shirts und der Nutzung eines Tablets entstehen bewegte Bilder, die das Innere des menschlichen Körpers in ziemlich realen 3D-Animationen zeigen. Körperstrukturen und -funktionen des Herzens werden sichtbar und können beschrieben werden. Ein Arbeitsblatt und ein Herz-Quiz ermöglichen es, das Wissen über das Herz zu vertiefen. - Bewegung
An dieser Station wird gemeinsam erarbeitet, warum Bewegung und körperliche Aktivität das Herz stärken können. Die Kursteilnehmer(innen) lernen, wie sie Bewegungseinheiten im Alltag integrieren können. Dazu erstellte die "GESUND!"-Projektgruppe ein Foto-Memory mit selbst gewählten Motiven. Es gibt zum Beispiel eine Memory-Karte mit einem Aufzug und das dazu passende Bild, auf dem Menschen die Treppe nutzen. Oder ein anderes Bild, das sowohl eine passive als auch eine aktive Pause in einer Werkstatt für behinderte Menschen zeigt. - Stressbewältigung
Kursteilnehmer(innen) werden eingeladen, über die Bewältigung von Stress zu sprechen. Anhand eines Stressbewältigungsbaums werden Ansätze der Stressbewältigung bewusst gemacht. Die Lernstation wird ergänzt durch ein Würfelspiel und Spielkarten. Das Spiel bietet die Gelegenheit, die Lerninhalte in einer unbefangenen Atmosphäre zu wiederholen.
Gute soziale Kontakte stärken das Herz
- Freundschaft In einer offenen Runde findet ein vorstrukturiertes Gespräch zum Thema Freundschaft statt. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Gute soziale Kontakte stärken das Herz und tragen dazu bei, dass sich der Mensch wohlfühlt. Ein Brettspiel mit eigens angefertigten Aktions- und Fragekarten bereichert die Lernstation. Die Teilnehmer(innen) bekommen Hinweise, was eine gute Freundschaft ausmacht.
An jeder Lernstation befinden sich Übungen und Aufgaben, die von der Projektgruppe "GESUND!" entwickelt wurden. Teilnehmer(innen) erhalten Merkblätter in einfacher Sprache zum Mitnehmen und Erinnern für zu Hause. Alle Aufgaben sind für unterschiedliche kognitive Niveaustufen konzipiert und vielfach einsetzbar. Arbeitsaufgaben in Kleingruppen gemeinsam zu lösen, erlaubt es auch Teilnehmer(inne)n mit einer stärkeren Beeinträchtigung, aktiv mitzuarbeiten. Der Kurs endet mit einer Zusammenfassung und Abschlussrunde.
Wie waren die Erfahrungen mit dem Projekt?
Das Kursangebot "Was stärkt das Herz?" ist inzwischen erprobt und durch eine Evaluation weiterentwickelt worden. Auf der einen Seite treten die Beschäftigten aus der LWB als Kursleiter(innen) in professioneller Art und Weise auf. Sie stellen ihr Erfahrungswissen zur Verfügung und verbinden dieses mit geprüften Gesundheitsinformationen. Auf der anderen Seite entsteht für die Kursteilnehmer(innen) ein Identifikationsgrad mit den Peers ("Gleichrangigen"). Sie erleben sich als aktiv Lernende in einem lebendigen kommunikativen Austausch. Sie erfahren, dass das Thema Gesundheitsförderung Spaß machen kann, und werden motiviert, sich mit weiteren Gesundheitsthemen zu befassen.
Das Projekt "GESUND!" ermöglicht Angebote der Gesundheitsförderung für Menschen, die sonst vom Gesundheitswesen kaum erreicht werden. Das Ziel ist die Befähigung zu selbstbestimmtem Gesundheitshandeln, wie sie die WHO bereits 1986 formulierte.
Weitere Kursthemen und Informationen zum Projekt "GESUND!" unter: http://partkommplus.de/teilprojekte/gesund oder "Gesunde Lebenswelt - ein Angebot der Ersatzkassen": https://bit.ly/3a9A2CU
Anmerkungen
1. Seidel, M.: Geistige Behinderung - eine Einführung. In: Bienstein, P.; Rojahn, J. (Hrsg.): Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Grundlagen, Diagnostik und Intervention. Göttingen: Hogrefe Verlag, 2013. Walther, K.; Römisch, K. (Hrsg.): Gesundheit inklusive. Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit. Wiesbaden: Springer VS, 2019. Havemann, M.; Stöppler, R.: Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 2014. Habermann-Horstmeier, L.: Grundlagen der Gesundheitsförderung in der stationären Behindertenarbeit. Eine praxisbezogene Einführung. Bern: Hogrefe Verlag, 2018.
2. WHO - Weltgesundheitsorganisation: OttawaCharter for Health Promotion, 1986. Online: https:// bit.ly/2QmpWqt, 1986 (Abrufdatum: 4.9.2019).
3. GESUND! ist ein Teilprojekt des Forschungsverbundes PartKommPlus - Forschungsverbund für gesunde Kommunen. BMBF-Förderkennzeichen 01EL1823A.
4. Siehe Video zum Herz-Kurs auf dem YouTubeKanal von GESUND! https://bit.ly/2IPkubI
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