Es begann bei Kaffee und Kardamom
Als Ali Alali 2015 aus Syrien nach Deutschland kam, schaffte er sehr viel aus eigener Kraft. Er renovierte eine Wohnung für seine vierköpfige Familie. Er lernte Deutsch bis zur B1-Prüfung. Für den B2-Abschluss brauchte er aber Hilfe. Die vermittelte ihm der Kontaktkreis Flüchtlinge in Unkel.
Bei Kaffee und Kardamom lernte er Tim Koch kennen. Alali schätzte dessen Einfühlungsvermögen, seine systematische Anleitung beim Deutschlernen und nicht zuletzt die Diskussionen über Politik und Gesellschaft. Gerne schauten die beiden Kurzfilme im Internet, "Easy Rider" brachte Sprache auf unterhaltsame Art und Weise bei. Deutsche Sprichwörter waren eine wunderbare Ergänzung. Freundschaftliche Gespräche machten das Lernen leichter und förderten das Sprechen und Verstehen.
Ali Alali und Tim Koch sind eines von derzeit rund 400 Jobtandems bei "Neue Nachbarn - auch am Arbeitsplatz", ein Projekt der "Aktion Neue Nachbarn", der gemeinsamen Aktion des Diözesan-Caritasverbandes und des Erzbistums Köln.1 Ihr Beispiel zeigt, dass hinter jeder Jobpatenschaft eine zutiefst menschliche Geschichte steht - bestehend aus Hoffnung und Leid, aus Anstrengung und Erfolg.
Alles begann im Jahr 2015 mit dem "langen Sommer der Migration"2 . Die EU erlebte zu diesem Zeitpunkt so hohe Flucht- und Migrationsbewegungen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.3 Mit 745.545 Erst- und Folgeanträgen auf Asyl erreichte 2016 auch Deutschland den nationalen Höchststand.4 Eine Welle der Hilfsbereitschaft empfing die Ankommenden. Tausende Bürger(innen) halfen mit Lebensmitteln an Flughäfen und Bahnhöfen oder organisierten Sachspenden. Dank dieses zivilgesellschaftlichen und staatlichen Engagements gelang die Erstaufnahme der Ankommenden.
Über das erste Willkommen hinaus die Integrationskultur festigen
Mit der "Aktion Neue Nachbarn" schuf das Erzbistum Köln früh eine Organisation zur Förderung einer Willkommenskultur. Mit Initiativen wie dem Projekt "Neue Nachbarn - auch am Arbeitsplatz" folgte im Jahr 2016 der nächste Schritt hin zur Stärkung einer neuen Integrationskultur, eben auch am Arbeitsplatz. Für das Projekt konnte zudem die "Aktion Mensch" gewonnen werden, die sich an der Finanzierung beteiligte. Erklärte Ziele zum Projektabschluss am 30. April 2019 waren:
- 300 Jobpatenschaften für Geflüchtete;
- 30 Veranstaltungen zum Thema "Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt" mit Ehrenamtlichen, lokalen Unternehmen sowie Geflüchteten.
Im Mittelpunkt der Jobpatenschaft steht die Beziehung zwischen einer/einem sogenannten Mentee, also einem Menschen mit Fluchthintergrund, die/der sich auf den Weg in Ausbildung oder Arbeit machen will, und einer Mentorin oder einem Mentor, die oder der dabei hilft. Es geht um Sprachförderung, um Unterstützung beim Umgang und der Kommunikation mit Behörden. Genauso können das Vertrautmachen mit neuen Berufsbildern, mit ungewohnten kulturellen Gepflogenheiten oder die Hilfe bei der Suche nach geeigneten Praktika oder Jobs im Mittelpunkt stehen. Private Netzwerke sind dabei besonders effektiv.
Der Wert einer Jobpatenschaft bemisst sich aber nicht nur an der erfolgreichen Vermittlung. Es geht vielmehr darum, auf Augenhöhe miteinander und voneinander zu lernen. Dabei entsteht ein besseres Verständnis der je anderen Lebenswelt.
Die Jobpat(inn)en erleben ihre Zeit mit den Mentees als bereichernd. Sie erfahren viel von anderen Kulturen und von Politik. Auf der anderen Seite erfahren die Geflüchteten nach oft traumatisch erlebten Zeiten eine beeindruckende Hilfsbereitschaft. So können sie Ziele entwickeln und Schritte in die Selbstständigkeit gehen.
Viele Hauptamtliche begleiten die Patenschaften
Strukturell gliedert sich das Projekt in eine Koordinierungsstelle auf Diözesanebene und derzeit 35 hauptamtliche Begleitpersonen, die die Betreuung der Jobpatenschaften vor Ort übernehmen. Die Begleitpersonen werden nicht aus Projektmitteln finanziert, sondern sind bei caritativen oder pastoralen Diensten angestellt. Zu den katholischen Anstellungsträgern zählen:
- örtliche Caritasverbände;
- Fachverbände im Erzbistum wie Sozialdienst katholischer Männer (SKM), Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), Sozialdienst katholischer Männer und Frauen (SKFM), und IN VIA - Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit;
- katholische Jugendagenturen;
- Dekanate und Pfarreien;
- Kirchengemeinden.
Durch die verschiedenen Träger und die unterschiedlichen Kompetenzen der hauptamtlichen Begleitpersonen ergeben sich häufig wichtige Synergien. Zu den Begleitpersonen gehören:
- ein Diakon;
- ein(e) Integrationsbeauftragte(r) der "Aktion Neue Nachbarn";
- Ehrenamtsbegleiter(innen), Ehrenamtskoordinator(inn)en sowie Koordinator(inn)en im Lotsenpunkt oder Sozialraumkoordination;
- Pastoralreferent(inn)en;
- Referent(inn)en im Bereich Migration und Integration beziehungsweise Beschäftigungsförderung;
- Referent(inn)en in der Jugendhilfe beziehungsweise Jugendberufshilfe.
So entstand ein interdisziplinäres Multiplikator(inn)en-Netzwerk, das sich in regelmäßigen Vernetzungstreffen mit Tipps aus der Praxis gegenseitig bereichert.
Erfolgversprechende Ergebnisse
Der Erfolg kann sich sehen lassen. Zum Ende der dreijährigen Projektlaufzeit im April 2019 zählten die Projektverantwortlichen:
- 341 Jobpatenschaften in elf Stadt- beziehungsweise Kreisdekanaten;
- 25 Veranstaltungen in 13 Stadt- beziehungsweise Kreisdekanaten.5
Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit belegen, dass im Mai 2018 bereits über 300.000 Menschen aus den acht Haupt-Asylherkunftsländern den Weg in Arbeit geschafft haben.6 Das lässt den Schluss zu, dass die Integration in den Arbeitsmarkt viel besser gelingt als gedacht.7
Um fachliche Konzepte weiterzuentwickeln und die Wirksamkeit des Projektes mit Blick auf die Politik zu verdeutlichen, starteten die Projektverantwortlichen im Januar 2019 eine anonyme Online-Umfrage. Dabei wurden auch soziodemografische und arbeitsmarktpolitische Daten der Jobpatenschaften abgefragt. Jobpat(inn)en beantworteten dabei zehn Fragen zu Alter, Geschlecht und dem Herkunftsland ihrer Mentees sowie zu Vermittlungserfolgen und -misserfolgen in Praktika, Ausbildung oder Arbeit. 79 Jobpatenschaften meldeten sich zurück. Zwar ist die Umfrage nicht repräsentativ, aber für die weitere Projektentwicklung konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden:
Wussten Sie schon, dass
- …für 53 Mentees eine Praktikumsstelle gefunden werden konnte und 34 Mentees eine Ausbildung erfolgreich begonnen haben? Spitzenreiter sind dabei die Branchen Gesundheits- und Krankenpflege, Elektround Metallgewerbe, aber auch IT, Medizin, Ingenieurwesen oder Journalismus.
- …die Suche nach einer Arbeitsstelle in 28 Fällen erfolgreich verlief? Darunter befinden sich vorrangig Helfer(inn)en im Einzelhandel, Garten und Landschaftsbau, Altenpflege, Gastronomie, Elektrotechnik und Lagerlogistik8 sowie Arbeitsstellen als Mediziner(in) oder IT-Fachinformatiker(in).
- …die Gründe für das Scheitern des Arbeitsmarktzugangs vielfältig sind? Benannt wurden zum Beispiel mangelnde Deutschkenntnisse (kein B1), fehlende Aufenthaltstitel oder Kinderbetreuungsplätze für Alleinerziehende, zu langandauernde Anerkennungsverfahren von Abschlüssen, aber auch Unverständnis über das Tragen eines Kopftuchs bei der Arbeit.
- …Jobpat(inn)en deutlich älter als ihre Mentees sind? Während knapp 35 Prozent der Ehrenamtlichen 65 Jahre und älter sind, sind rund 47 Prozent der Mentees im Alter zwischen 25 und 34 Jahren.
- …mehr Frauen (64 Prozent) ehrenamtlich aktiv sind als Männer (36 Prozent)? Unter den Mentees sind hingegen mehr Männer (68 Prozent) als Frauen (29 Prozent) oder Menschen mit dem Geschlecht divers (drei Prozent) vertreten.
In Zukunft geht es um "Peer-to-Peer"
Zentrale Erkenntnisse der Online-Umfrage lauten also: ein fast 20-jähriger Altersunterschied sowie ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis zwischen den Tandems und eine deutliche Unterrepräsentanz von weiblichen Mentees.
Migrationsgruppe. Eurostat-Daten zufolge haben in Europa seit dem Jahr 2015 ungefähr eine halbe Million Frauen, davon rund 300.000 in Deutschland, internationalen Schutz erhalten. Sie gehören zu einer besonders schutzbedürftigen Gruppe, weil sie einer Reihe von Integrationshemmnissen ausgesetzt sind. Ihre Gesundheits-, Bildungs- und Arbeitsmarktergebnisse9 sind ungünstiger als die männlicher Geflüchteter.10
Für die qualitative Weiterentwicklung von Jobpatenschaften ergibt sich daraus, mehr Angebote für weibliche Geflüchtete anzuregen und das Matching von Mentee und Jobpate oder Jobpatin mit Hilfe des "Peer-to-Peer"- Ansatzes zielgruppenspezifischer zu gestalten. Beim Zusammenbringen des Tandems sollen Aspekte wie Alter, Geschlecht und Lebenssituation berücksichtigt werden. Damit soll bei den Peer-Jobpatenschaften eine besondere Identifikation mit dem jeweiligen Gegenüber angestrebt werden, die konkreter auf die Lebenswelten und Bedürfnisse der einzelnen Geflüchteten ausgerichtet ist. So könnten etwa junge deutsche Azubis junge Geflüchtete unterstützen, oder Mütter, die bereits Erziehung und Beruf vereinbaren, Erfahrungen an geflüchtete Mütter weitergeben. Das Projekt "Neue Nachbarn - auch am Arbeitsplatz" hat sich daher bis zum 30. April 2021 zum Ziel gesetzt:
- 550 Jobpatenschaften für Geflüchtete zu schaffen - inklusive der bereits erreichten Jobpatenschaften; sowie
- 30 "Peer-Jobpatenschaften", wovon 15 auf weibliche Geflüchtete ausgerichtet werden.
Für Ali Alali und Tim Koch hat sich die Jobpatenschaft gelohnt: Alali macht eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker. Die Berufsschule fällt ihm zwar schwer. Aber er weiß nun, wo er sich Hilfe holen kann.
Anmerkungen
1. Weitere Erfahrungsberichte aus Jobpatenschaften im Projekt "Neue Nachbarn - auch am Arbeitsplatz" sind unter https://aktion-neue-nachbarn.de/jobtandem-ausstellung zu finden. Auf zehn Ausstellungstafeln geben sieben Jobtandems dem Engagementhinter den Jobpatenschaften ein Gesicht und eine Stimme. Die Wanderausstellung ist gratis ausleihbar.
2. Hess, S.; Kasparek, B.; Kron, S.; Rodatz, M.; Schwertl, M.; Sontowski, S.: Der lange Sommer der Migration. 2. korrigierte Auflage, Berlin: Assoziation A., 2016.
3. Siehe dazu Apap, J.; Radjenovic, A.: Politische Maßnahmen der EU im Interesse der Bürger. Das Thema Migration EPRS, Europäisches Parlament. PE 635.542. Juni 2019. Abrufbar unter Kurzlink https://bit.ly/2WDidZh
4. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Anzahl der Asylanträge (insgesamt) in Deutschland von 1995 bis 2020. Abrufbar unter: https://bit.ly/2vOgMMC
5. In einer neu konzipierten praxisorientierten Handreichung gibt es weiterführende Informationen zur Förderung niederschwelliger Unternehmenskooperationen im Projekt sowie zahlreiche Praxistipps zur Etablierung und Begleitung von Jobpatenschaften aus drei Jahren Projekterfahrung. Gratis abrufbar unter https://aktion-neue-nachbarn.de/jobpatenschaften-handreichung
6. Bundesagentur für Arbeit: Geschäftsbericht 2018, S. 10. Abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/ geschaeftsbericht-2018_ba044391.pdf
7. "Bald 40 Prozent beschäftigt". Nachricht in neue caritas Heft 15/2019, S. 8.
8. Der Schluss, dass die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter überdurchschnittlich oft in Helferberufen sowie prekärer Beschäftigung mündet und mehr als zwei Drittel zu einem Niedriglohn arbeiten, ist wissenschaftlich belegt, unter anderem durch den Arbeitslosenreport NRW 2019. Flüchtlinge am Arbeitsmarkt, 2/2019, abrufbar unter Kurzlink https://bit.ly/39WKPjc
9. Zur Arbeitsmarktintegration weiblicher und männlicher Geflüchteter schreiben Bürmann, M. et al: "Im dritten Jahr nach Zuwanderung haben etwa die Hälfte der männlichen Geflüchteten erste Arbeitsmarkterfahrungen in Deutschland gesammelt, bei weiblichen Geflüchteten ist es nur etwa ein Viertel." Bürmann, M.; Haan, P.; Kroh, M.; Troutman, K.: Beschäftigung und Bildungsinvestitionen von Geflüchteten in Deutschland. DIW Wochenbericht Nr. 42/2018, S. 920.
10. In einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird daher die Frage aufgeworfen, ob weibliche Geflüchtete dreifach benachteiligt sind, aufgrund ihres Geschlechts, ihres Migrationshintergrundes und ihrer erzwungenen Migration. Siehe Liebig, T.: Dreifach benachteiligt? Ein erster Überblick über die Integration weiblicher Flüchtlinge. Paris: OECD Publishing, 2018; http://dx.doi.org/10.1787/b0cf3f35-de
Benachteiligte Schüler unterstützen
Erfolgsfaktor Kooperation
Was stärkt das Herz?
Zusammenhalt in Europa wird großgeschrieben
Corona-Krise auf den zweiten Blick
Stellungname zum Sozialschutz-Paket II
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}