Subsidiarität. Gemeinwohl. Postleitzahl.
Wir wollen dafür sorgen, dass Lebensqualität keine Frage der Postleitzahl ist." Spätestens mit dieser Ankündigung auf der Klausurtagung der CSU1 wird deutlich: Die sich verfestigende Regionalisierung sozialer Ungleichheit genießt politisch erhöhte Aufmerksamkeit. Ob, wann und wie Maßnahmen aus dem "Plan für Deutschland. Gleichwertige Lebensverhältnisse überall" umgesetzt werden, den die Minister Horst Seehofer, Julia Klöckner und Franziska Giffey im Sommer 2019 vorgelegt haben2, wird über Teilhabechancen von Menschen in Stadt und Land, in Ost und West maßgeblich entscheiden; insbesondere über das Wohlergehen derer, die gesundheitlich eingeschränkt, alt oder einsam sind.
Über viele Jahre haben Politik und Ökonomie die Zunahme regionaler Disparitäten eher gleichmütig verfolgt. Man vertraute auf die Treffsicherheit einer Politik personeller Umverteilung3 und die Vorstellung ausgleichender Wanderungsbewegungen, auch wenn Sozialverbände und -forscher(innen) seit Jahren auf die Gefahren abgehängter Regionen aufmerksam machen.4 In seinem Bericht über "die Zukunft der Regionen in Deutschland" weist nun mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) ein renommiertes Wirtschaftsforschungsinstitut auf regionalpolitische Handlungsbedarfe hin, "um gesellschaftliche Spaltungen zu vermeiden".5 Der Versuchung, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit auf ein Projekt gegen die "Mezzogiornisierung Ostdeutschlands"6 zu reduzieren, gilt es dabei zu widerstehen. Es geht um Grundfragen (sozialer) Daseinsvorsorge. Und es wird höchste Zeit, die Wohlfahrtsverbände bei der Umsetzung tragfähiger Lösungen einzubeziehen.
Bereiche der Daseinsvorsorge wirken nur im Zusammenspiel
Eingeordnet in das Konzept des Befähigungsansatzes7 ist Daseinsvorsorge zu sehen als Bündel von Gütern, Dienstleistungen und Institutionen von öffentlichem Interesse, das die Mitglieder einer Gesellschaft in die Lage versetzt, eigenständig und selbstbestimmt ein gutes Leben zu führen und am sozialen und politischen Geschehen teilzuhaben. Dabei reicht es nicht, Bereiche der Daseinsvorsorge isoliert voneinander zu betrachten; die Wirkungen etwa von Gesundheitsversorgung, Pflege und Bildungsangeboten ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Angebote im Raum.8 Dieses Zusammenwirken zu gestalten war und ist die besondere Kompetenz der Wohlfahrtsverbände, die ihr Portfolio sozialer Dienstleistungen auf die drängenden Herausforderungen hin ausgerichtet und aufeinander abgestimmt weiterentwickelt haben: Vielfältig haben Träger und Fachverbände unter dem Dach der Caritas ein Netz sozialer Hilfen geknüpft, als "Feuerwehr des Sozialen" haben freie Wohlfahrtsverbände ihre Rolle in einem historisch gewachsenen Wohlfahrtsmix immer wieder neu justiert. Zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse konnten und können sie dann wirksam beitragen, wenn die in den Wohlfahrtsverbänden zusammengeschlossenen Träger und Einrichtungen sich einerseits ihre seismographische Aufmerksamkeit für soziale Notlagen und ihre lebensdienliche Nähe zu den Menschen bewahren und wenn andererseits die öffentlichen Hände die gemeinwohlorientierte Rolle der Sozialleistungsverbände bei der sozialen Dienstleistungserbringung respektieren und die Refinanzierung ihrer Leistungen sichern.
Subsidiarität ist dabei mehr als ein Prinzip der Kompetenzverteilung zwischen öffentlicher Hand und Wohlfahrtsverbänden oder ein Legitimationsgrundsatz zur Privilegierung weltanschaulich geprägter Spitzenverbände. Das der katholischen Soziallehre entstammende Subsidiaritätsprinzip verweist ganz generell auf den Vorrang der "kleineren Einheit" und die Verpflichtung zum Beistand, "wenn die Hilfsmittel der kleineren Einheit nicht ausreichen".9 Die Tatsache, dass in allen europäischen Ländern die lokale Ebene als Versorgungs- und Problembearbeitungsinstanz im Sozialen (wieder) an Bedeutung gewinnt10, fordert ein umfassendes, am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtetes sozialstaatliches Ordnungskonzept. Gerade für ältere Menschen und ihre (medizinische und pflegerische) Versorgung bedarf es einer Nahräumlichkeit, die ihre eingeschränkte Mobilität berücksichtigt. Bund und Länder stehen daher in der Pflicht, finanziell überforderte Kommunen zu unterstützen. Ein Daseinsvorsorge-Förderprogramm ist eine Möglichkeit, die kommunale Ebene bei ihrer subsidiären Aufgabenwahrnehmung zu stärken.
Wohlfahrtsverbände können im sozialen Netzwerk punkten
In Deutschland existiert eine lange Tradition der "Sozialwirtschaft mit starken Non-Profit-Organisationen wie den Wohlfahrtsverbänden"; in Kooperation mit ihnen sei es für Kommunen leicht, die erforderlichen Gelegenheits- und Ermöglichungsstrukturen zu schaffen, so das IW - weit entfernt von einer Haltung, die soziale Grundversorgung einem freien Markt überlassen zu wollen. Subsidiarität wird ausdrücklich "nicht als Weg zum Abbau des Sozialstaats", sondern vielmehr als eine Möglichkeit beschrieben, neue und alte Formen der Selbstorganisation verbunden mit Bürgerbeteiligung zu stärken.11 Es gehe darum, Netzwerke mit eigenständigen Wohlfahrtspotenzialen zu knüpfen, die dem Umstand zunehmender Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft Rechnung tragen. Wohlfahrtsproduktion brauche Vielfalt und Selbstbestimmung - Chance und Herausforderung für die Wohlfahrtsverbände gleichermaßen, deren Selbstverständnis in hohem Maße darauf basiert, gesellschaftliche Vielfalt in selbstbestimmten Organisationsformen subsidiär zu berücksichtigen.
"Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen dem Deutschen Caritasverband (DCV) und seinen Gliederungen und Mitgliedsorganisationen werden nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt", so heißt es in der Präambel der DCV-Satzung. Bei der praktischen Umsetzung dieses Prinzips im politischen Raum - gegen die Verfestigung von regionalen Disparitäten und für eine Stärkung personaler Teilhabechancen in der digitalen Transformation - hat die Caritas damit einen Startvorteil. Um diesen zu nutzen, sind mindestens drei Aspekte vorrangig:
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Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse muss zuerst vor Ort gelingen; daher bedarf es eines Schulterschlusses von freier Wohlfahrtspflege und Kommunen. Finanziell gestärkte Kommunen können (und sollten) mit den Wohlfahrtsverbänden als freigemeinnützigen CoProduzenten das Netz sozialer Infrastruktur partizipativ gestalten, wie es einem befähigenden Konzept von Daseinsvorsorge entspricht.
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Die Digitalisierung erweitert ("hybridisiert") den Sozialraum, der über Teilhabechancen von morgen entscheidet. Die im Digitalen sich vollziehende Plattformisierung12 aller Leistungsbeziehungen verändert die Hoheit der Erreichbarkeiten. Plattformen schieben sich zwischen Nachfrage und Angebote und geben Eignern des "Marktplatzes" Macht über Daten und Zugänglichkeit von Rat und Hilfe. Mit dem Onlinezugangsgesetz sind die staatlichen Instanzen gehalten, ihre Leistungen über öffentliche Portale und Plattformen zu organisieren. Es ist von zentraler Bedeutung, die Autonomie der freien Träger bei der Gestaltung dieser Zugänge abzusichern.13
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Eine subsidiäre Leistungserbringung setzt unter den Vorzeichen von Digitalisierung und Plattformisierung auch innerhalb des Caritasverbandes Neuverständigungen über ermöglichende Rahmenbedingungen voraus.14 Strukturentwicklung für ein produktives Zusammenspiel aller Ebenen "4.0" braucht Absprachen über Verantwortlichkeiten für Leistungserwartungen, die an Postleitzahlbezirken nicht mehr abgrenzbar sind. Die Gestaltung der Governance-Struktur der Online-Beratung ist ein spannendes Beispiel für die Bewältigung dieser Aufgabe.
Anmerkungen
1. "Unsere Politik für starke Regionen - und eine Heimat mit Zukunft", Beschluss der Klausurtagung der CSU in Kloster Seeon, Januar 2020 (www.csu-landesgruppe.de).
2. "Unser Plan für Deutschland" wurde gemeinsam mit den Arbeitsgruppenergebnissen der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" am 10. Juli 2019 veröffentlicht (bmi.bund.de). Der DCV hat in einer Positionierung dazu Schwerpunktanforderungen an die Umsetzung des Plans bereits formuliert. Vgl. Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Positionierung zum "Plan für Deutschland - gleichwertige Lebensverhältnisse überall". In: neue caritas, Heft 18/2019, S. 37 f.
3. Personelle im Unterschied zu regionaler Umverteilung setzt auf Instrumente wie Grundsicherung oder BAföG. Diese Instrumente allein können aber die strukturellen Nachteile, die durch regionale Disparitäten entstehen, nicht ausreichend kompensieren. Neben einer Politik der personellen Umverteilung braucht es regional politische Initiativen, um gleiche Teilhabechancen zu sichern.
4. Die DCV-Jahreskampagne 2015 "Stadt - Land - Zukunft. Fülle dein Land mit Leben" tat sich entsprechend nicht ganz leicht, findet jetzt verspätet politisches Interesse, indem zum Beispiel die damaligen Plakatmotive in Vorträgen Dritter zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse genutzt werden. 5. Hüther, M.; Südekum, J.: Voigtländer, M. (Hrsg.): Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit. Köln: Institut der Deutschen Wirtschaft, 2019, S. 12.
6. Mau, S.: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 2019, S. 163.
7. Deutscher Bundestag: Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune, BT-Drucksache 18/10210, Berlin, S. 35.
8. Drei Schwerpunkte sieht das IW bei der gleichwertigkeitsdienlichen Ausgestaltung der Daseinsvorsorge - Sicherung guter Lebensbedingungen für die Bleibenden, attraktive Lebensbedingungen für die Zuziehenden und Verbindung von Wissenschaftsstandorten mit einer diversifizierten Dienstleistungsökonomie. Wohlfahrtsverbände mit ihren Angeboten sind damit umfassend angesprochen. S.Hüther, M., a. a.O., S. 75.
9. Backhaus-Maut, H.; Olk, T.: Von Subsidiarität zu "outcontracting": Zum Wandel der Beziehungen zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden in der Sozialpolitik. Bonn/ Berlin, 1995, S. 17; vgl. auch Sachsse, C.: Subsidiarität: Zur Karriere eines sozialpolitischen Ordnungsbegriffes. In: Zeitschrift für Sozialreform, 1994, S. 717-738.
10. Vgl. Goodhart, D.: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London: C.Hurst & Co., 2017.
11. Hüther, M., a.a.O., S. 268 f.
12. Siehe neue caritas, Heft 17/2019, mit Schwerpunkt Online-Plattformen.
13. Welskop-Deffaa, E. M.: Der Online-Verdrängung den Kampf ansagen. In: Wohlfahrt Intern 1.2/2020, S. 37-39. 14. Die Studie der Bank für Sozialwirtschaft "Erfolgsfaktor Digitalisierung" vom Februar 2020 macht den von den Mitgliedern formulierten neuen Kooperationsbedarf 4.0 innerhalb der Caritas nachdrücklich sichtbar.
Transparenz lohnt sich
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Gemeinsam in die Zukunft
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