Es fehlt Wohnraum
In vielen Ballungsgebieten und Großstädten wie Berlin sind obdachlose Menschen, die auf der Straße leben, zu sehen. Sie leben teilweise ständig auf der Straße, manche von ihnen suchen aber auch Notunterkünfte auf oder leben nur zu bestimmten Jahreszeiten auf der Straße oder auf verlassenen Grundstücken, zum Beispiel wenn die Kälte- beziehungsweise Winterhilfe endet. Die Situation hängt auch davon ab, wie Behörden und Polizei mit obdachlosen Menschen umgehen und ob Verdrängung stattfindet. In Berlin ist auch zu beobachten, dass obdachlose Menschen ihre Aufenthaltsorte teilweise verstärkt in naturnahe Gebiete verlagern, um mehr Ruhe zu finden und vor Gewalt auf der Straße stärker geschützt zu sein. Manche suchen anliegende Städte und Gemeinden im Speckgürtel der Hauptstadt auf. Nach wie vor ist es nicht einfach, einen statistischen Überblick über obdachlose Menschen auf der Straße in Deutschland zu erhalten. Die Datenlage ist von einer hohen Dunkelziffer geprägt.
Verschiedene Ursachen führen zu Obdachlosigkeit
Die Ursachen für Straßenobdachlosigkeit sind vielfältig und sehr heterogen. Sie reichen von Armut, Verschuldung, Sucht, Wohnungslosigkeit, psychischer Erkrankung über familiäre Schwierigkeiten bis hin zur Arbeitslosigkeit. Sie betrifft sowohl Menschen, die in Deutschland geboren sind, als auch EU-Bürger:innen und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Transnationale Migration beziehungsweise Pendelmigration in Verbindung mit prekären Arbeitsbedingungen ist eine weitere Ursache für Obdachlosigkeit, indem Menschen nach Deutschland kommen, hier von Arbeitgebern ausgebeutet und dann obdachlos werden. Obdachlosigkeit betrifft zu mindestens 80 Prozent Männer, aber der Anteil von Frauen (bis zu 20 Prozent) und teilweise auch von Familien nimmt zu. Viele der Betroffenen leben partiell in Notunterkünften, bei Freund:innen oder Verwandten oder in einer ordnungsrechtlichen Unterbringung. Ein teilweise zunehmendes Phänomen sind Obdachlosigkeit und wachsende Straßenszenen aufgrund illegaler Drogen an bestimmten Hotspots.
Unterschied zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit
Wer keinen eigenständigen Mietvertrag oder Wohnraum besitzt beziehungsweise nutzen kann, gilt als wohnungslos. Dazu zählen unter anderem alle Menschen, die in Not- oder Gemeinschaftsunterkünften oder in der ordnungsrechtlichen Unterbringung leben. Obdachlosigkeit ist geprägt vom Leben auf der Straße, schließt aber die partielle Nutzung von Unterkünften nicht aus. Viele Menschen meiden Notunterkünfte, weil sie dort Gewalt erlebt oder andere problematische Erfahrungen gemacht haben. Andere Gründe sind zum Beispiel, dass keine Hunde mitgebracht werden können oder der Konsum von Drogen in den meisten Unterkünften verboten ist. Frauen versuchen häufig gemischte Unterkünfte zu vermeiden, weil sie oft Gewalterfahrungen in ihrer Biografie gemacht haben. Wichtiger Unterschied ist bei den Zielgruppen auch die Unterscheidung, ob sie sozialrechtlich leistungsberechtigt sind oder vermeintlich keine sozialrechtlichen Leistungsansprüche haben. Die Klärung dieser Frage ist oftmals sehr kompliziert, aber durchaus möglich.
Wie bestreiten obdachlose Menschen ihren Lebensunterhalt?
Viele obdachlose Menschen verdienen sich ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeit, Betteln, Flaschensammeln, Verkauf von Straßenzeitungen und andere Formen prekärer Beschäftigung. Studien zum Alltag von obdachlosen Menschen zeigen, dass die Realisierung der Grundbedürfnisse wie Essen, Hygiene, Lebensunterhalt verdienen, Schlafplatz finden und sichern, soziale Kommunikation sowie medizinische Versorgung hochkomplexe Fähigkeiten erfordern und zudem sehr anstrengende und zeitintensive Tätigkeiten sind. Insgesamt ist Obdachlosigkeit ein sehr heterogenes Phänomen mit unterschiedlichen Klient:innengruppen und Ausprägungen. Die zunehmende Wohnungsarmut führt dazu, dass es für obdachlose Menschen mit multiplen Problemlagen immer schwieriger wird, eine Wohnung zu finden. Die Situation von obdachlosen Menschen aus EU- und Nicht-EU-Staaten ist zudem geprägt von den jeweiligen Entwicklungen in den Heimatregionen und dem jeweiligen Umgang vor Ort.
Ziel: Obdachlosigkeit bis 2030 beheben
Die EU hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 die Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu beenden. Dieses Ziel führt in den EU-Staaten zu zahlreichen Aktivitäten. Dies betrifft auch Deutschland. Erst im April dieses Jahres wurde der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit ausgerufen und vom Kabinett beschlossen. Er bildet einen wichtigen Orientierungsrahmen für die nächsten Jahre. Aktivitäten der verschiedenen staatlichen Ebenen und Akteure sollen gebündelt und besser koordiniert werden. Eingebunden in den Nationalen Aktionsplan sind auch zivilgesellschaftliche Akteure wie die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege.
Ziel ist auch, dass ausreichend Wohnungen zur Verfügung stehen. Die Formel dafür ist insbesondere "Housing First". In verschiedenen Kommunen und Städten sind Housing-First-Projekte gestartet, um bestimmte Zielgruppen in Wohnungen zu bringen. Diese Pilotprojekte sind sicherlich sinnvoll, auch weil sie sehr niederschwellig sind. Gleichzeitig setzen sie aber zumeist voraus, dass die betreffende Person Leistungsansprüche auf Grundsicherung hat. Damit sind große Gruppen der Menschen, die auf der Straße leben und deren Leistungsansprüche nicht geklärt sind oder nicht bestehen, davon ausgeschlossen. Zudem handelt es sich zumeist um zahlenmäßig überschaubare Projekte. Sie sind jedoch in vielen Fällen eine wichtige Ergänzung der Wohnungslosenhilfe. Allerdings findet in vielen Fällen eine ähnliche Arbeit in der Wohnungslosenhilfe ohne die Bezeichnung "Housing First" mit hohen Vermittlungsraten bereits statt. In der ambulanten Wohnungshilfe der Caritas im Erzbistum Berlin zum Beispiel beträgt die Vermittlungsquote bis zu 80 Prozent. Ob nun Housing First, ähnliche Ansätze oder weitere Hilfen der öffentlichen und freien Wohnungslosenhilfe - bei allen bleibt der Schlüssel der fehlende Wohnraum. Es reicht also nicht, wenn Housing First als Zauberformel von Politiker:innen oder anderen Akteuren durch das Land getragen und damit suggeriert wird, das Phänomen der Straßenobdachlosigkeit ließe sich damit zügig lösen. Gleichwohl muss das Ziel sein, dass möglichst alle Menschen eine Wohnung bekommen.
Transnationale Sozialarbeit muss ausgebaut werden
Die Wohnungslosenhilfe hat es zunehmend mit hochkomplexen Problemlagen von Menschen auf der Straße zu tun. Viele Menschen haben multiple soziale und gesundheitliche Schwierigkeiten und sind psychisch und physisch in einem schlechten Zustand. An vielen Orten wurden die Kapazitäten der Winter- und Kältehilfe ausgebaut. Das ist als Überlebenshilfe sicherlich sinnvoll. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Menschen neben Wohnraum vor allem Möglichkeiten der sozialen und digitalen Teilhabe brauchen. Notwendig sind zudem Tagesaufenthalte, Orte und Beratung zur Klärung sozialrechtlicher und aufenthaltsrechtlicher Fragen, Zugang zu psychiatrischer Hilfe und gesundheitlicher Versorgung. Orte wie 24/7-Einrichtungen, die in der Coronazeit eingerichtet wurden, sowie Einrichtungen wie die Caritas-Krankenwohnung für wohnungslose Menschen in Berlin dokumentieren, dass sich viele obdachlose Menschen dort stabilisieren und ihre Probleme schrittweise angehen können, wenn sie nicht mehr um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen. Dies ist auch deshalb ein wichtiger Aspekt, weil auf der Straße Übergriffe auf obdachlose Menschen deutlich zunehmen. Im Kontext der Beratung ist muttersprachliche und kultursensible Beratung ein Erfolgsfaktor. Besonders wirksam kann dabei auch die transnationale Sozialarbeit sein, die sozialarbeiterische Kompetenzen zwischen und in den Ländern zusammen einsetzt. Natürlich muss auf politischer Ebene auch die Situation in den Heimatländern verbessert werden.
Hochproblematisch wird es bei obdachlosen Menschen aus anderen Ländern, wenn bei existenzsichernden Maßnahmen nach Leistungsstatus unterschieden wird. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Dach über dem Kopf, auf Essen, Zugang zu Hygiene und gesundheitlicher Versorgung. Auch eine Vertreibung von öffentlichen Orten mit der Folge einer Entziehung der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde ohne entsprechende Aufklärung und Wahrung der rechtlichen Rahmenbedingungen ist nicht akzeptabel. Es ist nachvollziehbar, dass Interessen von Nachbarn und Geschäftsinhabern berücksichtigt werden müssen. Auf der anderen Seite muss der öffentliche Raum weiterhin auch für obdachlose Menschen zugänglich sein. Gleichzeitig ist es problematisch, wenn Menschen auf der "Platte" zum Beispiel durch zu viele Initiativen überversorgt werden und prekäre Lebenslagen damit manifestiert werden. Umso wichtiger ist die Stärkung von politischer Partizipation und Selbstvertretung der Menschen.
Angespannte öffentliche Haushalte bedrohen Zuwendungsprojekte
Die öffentlichen Haushalte sind auf allen Ebenen teilweise sehr angespannt. Dies birgt das Risiko, dass Hilfen vor Ort eingeschränkt werden beziehungsweise Stellen und Projekte, die zuwendungsfinanziert sind, gekürzt werden oder wegfallen. Gerade die Hilfen nach § 67 SGB II sind sehr gut geeignet, damit Menschen eine neue Lebensperspektive entwickeln können. Hier ist genau zu beobachten, ob diese Hilfen weiterhin auf kommunaler Ebene genehmigt oder eingeschränkt werden. Viele Projekte der niederschwelligen Hilfen sind zuwendungsfinanziert und auf hohe Eigenmittel angewiesen. Auch hier stellt sich die Frage, wie sich zurückgehende öffentliche und kirchliche Mittel auf solche Projekte auswirken. Insgesamt sollte außerdem auf kommunaler Ebene der Bereich der Prävention von Wohnungslosigkeit dringend ausgebaut werden. Vielleicht kann der Nationale Aktionsplan dazu beitragen, dass hier die Vernetzung der Behörden und Akteure vor Ort sowie auf den weiteren Ebenen gestärkt werden kann, um die Prävention voranzutreiben und um Schnittstellen zwischen Bereichen wie der Wohnungslosenhilfe und der Jugendhilfe sowie anderen Gebieten zu verbessern.
Ein dringendes Thema ist die Verbesserung der gesundheitlichen Situation der obdachlosen Menschen. Aufgrund der Tatsache, dass Krankenhäuser immer früher entlassen und viele Menschen aus dieser Gruppe schlecht versorgt sind, kommen viele Menschen mit offenen Wunden und großen gesundheitlichen Problemen in die niederschwelligen Einrichtungen oder leiden auf der Straße. Diese Zielgruppe muss bei der Krankenhausreform dringend mitgedacht werden. Denn Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht.