Herkunft entscheidet über Zugang zu Sozialleistungen
Mindestens 28.400 Staatsangehörige anderer EU-Staaten waren 2022 in Deutschland wohnungslos. Am Stichtag 31. Januar 2022 waren insgesamt 178.145 Menschen in Deutschland institutionell untergebracht.2 Davon hatten überproportional viele Menschen (69 Prozent) eine ausländische Staatsangehörigkeit, circa 16.000 von ihnen waren Bürger:innen der Europäischen Union. Zwischen dem 1. und 7. Februar 2022 lebten außerdem 7.500 Unionsbürger:innen ohne Unterkunft "auf der Straße", weitere circa 4.900 lebten in diesem Zeitraum verdeckt wohnungslos bei Verwandten oder Bekannten.3 Wie viele dieser Menschen keine Sozialleistungsansprüche haben, ist nicht bekannt.
Aus der Praxis wie auch aus Studien gibt es Hinweise darauf, dass unter der wohnungslosen Bevölkerung in Deutschland häufig Unionsbürger:innen mit ost- und südosteuropäischer Staatsangehörigkeit in besonders prekären Lagen leben: Leben auf der Straße, kein regelmäßiges Einkommen, keine Transferleistungen.4 Diese Notlagen entstehen nicht von selbst, sondern sind Folge eines komplexen Zusammenspiels von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, rechtlichen Vorgaben und individuellen Faktoren. Wohnungslose EU-Bürger:innen beziehen seltener existenzsichernde Leistungen nach SGB II und SGB XII als andere: laut der Lebenslagenstudie von Evangelischem Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe (EBET) und Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin nur zu 44,5 Prozent gegenüber 75,9 Prozent aller Befragten. Genauso viele wohnungslose EU-Bürger:innen verfügten über gar kein Geld (gegenüber 11,1 Prozent aller Befragten).5 Im Rahmen einer NRW-weiten Studie zu wohnungslosen Menschen gaben nur 15,2 Prozent beziehungsweise 2,8 Prozent an, existenzsichernde Sozialleistungen nach dem SGB II beziehungsweise SGB XII zu beziehen.6
Diese prekäre materielle Situation hat mit den gesetzlichen Ausschlüssen von Ausländer:innen von existenzsichernden Sozialleistungen zu tun, sowohl mit den gesetzlichen Regelungen selbst als auch mit ihrer Auslegung und den damit zusammenhängenden Praktiken. So kann beispielsweise eine fehlerhafte Prüfung durch die leistungsgewährenden Stellen zu einer Leistungsverwehrung führen, ähnlich wie eine deutlich aufwendigere Antragstellung aufgrund des Erfordernisses, mehr und andere Dokumente einzureichen als Angehörige anderer Nationalitäten.7 Ebenfalls kann eine unterlassene oder ungenaue Prüfung möglicher Leistungsansprüche durch Beratungsdienste dazu führen, dass Menschen gar nicht erst einen Antrag stellen und ihnen so der Zugang verwehrt bleibt.
Kaum medizinische Versorgung
Prekäre Lebenslagen wie Wohnungslosigkeit machen krank. Der Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung ist für viele wohnungslose Unionsbürger:innen eingeschränkt: Ein Viertel (24,5 Prozent) der befragten Unionsbürger:innen gaben im Rahmen des Lebenslagenindex an, gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben, weitere 30 Prozent hatten nur Zugang zu medizinischen Angeboten der Wohnungslosenhilfe.8 Laut der NRW-Studie hatten nur 26 Prozent eine Krankenversicherungskarte, die ihnen - zumindest theoretisch - einen Zugang zum regulären Gesundheitssystem verschaffen würde.9
Wer keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat, ist auf zivilgesellschaftliches Engagement und den Goodwill von Einzelnen angewiesen. Anstatt das Recht auf ein "Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit" (Art. 12 Abs. 1 UN-Sozialpakt) wahrnehmen zu können, sind wohnungslose Unionsbürger:innen häufig auf karitative Angebote angewiesen, die auf individuellem Engagement beruhen. Diese tragen zwar im Einzelfall zur Überlebenssicherung bei, bieten jedoch keine verlässliche, reguläre medizinische Versorgung. Vielmehr sind diese Angebote häufig von einer prekären finanziellen Ausstattung geprägt.
Kaum Einkommen
In der Lebenslagenerhebung gab knapp ein Viertel der befragten wohnungslosen EU-Bürger:innen an, nur gelegentlich beschäftigt zu sein.10 21,6 Prozent der in der NRW-Studie Befragten hatten keinerlei Einkommen, 39 Prozent lebten ausschließlich vom Flaschensammeln, Betteln oder Ähnlichem und 5,5 Prozent bezogen Einkommen zum Teil aus informeller Beschäftigung.11 Viele wohnungslose Unionsbürger:innen befinden sich nicht zuletzt infolge der multiplen Ausschlüsse von Unterstützungsleistungen in einem Teufelskreis: keine Wohnung - keine Arbeit, keine Arbeit - keine Wohnung. Um überhaupt ein Einkommen zu generieren, floriert der irreguläre Beschäftigungsmarkt, auf dem die Unionsbürger:innen weitestgehend entrechtet Arbeitsverhältnissen nachgehen.
Der Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen, die ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe und eine Grundausstattung in den Bereichen Wohnen und medizinische Versorgung ermöglichen, ist aktuell an den Aufenthaltsstatus geknüpft. Damit sind prekäre Lebenslagen vorprogrammiert und die Interventionsmöglichkeiten sehr begrenzt. Die Herstellung oder Sicherung eines Aufenthaltsstatus, der Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen ermöglicht, ist von zentraler Bedeutung.
Durch das gesamte Leben von Migrant:innen zieht sich das Thema (rassistische) Diskriminierung. Rassismus ist mittlerweile in verschiedenen Bereichen dokumentiert - öffentliche Verwaltung, Gesundheit, Wohnungsmarkt, Polizei12 - ebenso wie Diskriminierung aufgrund der (zugeschriebenen) sozialen oder ethnischen Herkunft.13 Auch Sprachbarrieren werden häufig als zentrale Herausforderung in der Unterstützung wohnungsloser Unionsbürger:innen benannt.14
1. Grundlage dieses Textes ist ein Vortrag der Autorin bei den Fachtagen Wohnungslosenhilfe der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW) in Köln am 25. April 2024.
2. Destatis: Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen, 2023 und fortlaufend. Online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-destatis, abgerufen am 5.5.2024.
3. BMAS (Hrsg.): Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit. Der Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2022. Online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-Wohnungslosenbericht, abgerufen am 5.5.2024; Brüchmann, K.; Busch-Geertsema, V.; Heien, T.; Henke, J.; Kiesner, T.; Pfister, M.; Schöpke, S.: Empirische Untersuchung zum Gegenstand nach § 8 Abs. 2 und 3 WoBerichtsG. 2022b. Online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc-wohnungslos, abgerufen am 5.5.2024.
4. Brüchmann, K.; Busch-Geertsema, V.; Henke, J.; Schöpke, S.; Steffen, A.: Wohnungslose ohne Unterkunft und verdeckt Wohnungslose in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse einer Befragung, 2022a. Online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-ohneunterkunft, abgerufen am 5.5.2024.
5. In diese Erhebung waren auch Menschen in Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII einbezogen; Gerull, S.: Wohnungslos in unsicheren Zeiten. Ergebnisse der 2. Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen. Eine Studie der ASH Berlin in Kooperation mit EBET e. V., 2022.
6. Brüchmann, K. et al. 2022 b, S. 51.
7. Almurtada, F.; Barth, H.: Gleiche Rechte für Kinder mit EU-Staatsangehörigkeit aus Bulgarien und Rumänien. Working Paper #19, Berlin: Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte, 2019.
8. Gerull, S.: a. a. O., S. 33.
9. Brüchmann, K. et al.: a. a. O., 2022 b, S. 53.
10. Gerull, S.: a. a. O., S. 33.
11. Brüchmann, K. et al.: a.a.O., 2022b, S. 51.
12. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration; Die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus: Lagebericht Rassismus in Deutschland. Ausgangslage, Handlungsfelder, Maßnahmen, Berlin, 2023; online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-lagebericht (5.5.2024).
13. Kemper, A.; Weinbach, H.: Klassismus. Eine Einführung. Münster, 2009.
14. Haj Ahmad, M.-T.; Busch-Geertsema, V.: Evaluation des Projektes "Brückenschlag" der Bischof-Hermann-Stiftung in Münster. Abschlussbericht, 2023. Online unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-brueckenschlag, abgerufen am 5.5.2024.