Bildungsgerechtigkeit trotz Corona
Bildung soll gerecht, fair und für alle zugänglich sein. Jede und jeder soll ihre/seine Talente und Fähigkeiten entfalten können und dabei so gut wie möglich unterstützt werden: Das gilt schon für die Kindergartenkinder, aber umso mehr für Schülerinnen und Schüler an Grund- und weiterführenden Schulen. Niemand wird dem widersprechen. Auch viele Jahre nach der ersten Pisa-Untersuchung ist es leider eine Tatsache: Ganz normal gescheite Kinder schaffen es nicht, manche erreichen nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Woran liegt das?
Die wirtschaftliche Lage der Familie zählt
Den Bildungserfolg der Kinder gefährden drei Risiken: ein niedriger Bildungsstand der Eltern, elterliche Erwerbslosigkeit und Armutsgefährdung des Haushalts. Im Jahr 2018 war fast jede/r dritte Minderjährige von mindestens einer dieser drei Risikolagen betroffen. Das hat die Autorengruppe Bildungs-Berichterstattung im Auftrag der Kultusministerkonferenz und der Bundesregierung festgestellt ("Bildung in Deutschland kompakt 2020"). Kinder von Alleinerziehenden sind davon doppelt so häufig betroffen wie Kinder in Paarfamilien. Jeder fünfte Haushalt mit Kindern ist alleinerziehend. Hier leben viele Kinder in Armutslagen.
Eine weitere Gruppe mit erschwertem Bildungszugang sind Familien mit Migrationshintergrund. Hier lebt jedes vierte Kind bei Eltern, die selbst weder Abitur noch abgeschlossene Berufsausbildung haben. Bei Familien ohne Migrationshintergrund trifft das nur für jedes zwanzigste Kind zu.
Zuwanderungsgeschichte in der eigenen Familie ist nicht nur für die selbst Eingewanderten ein Handicap: Auch die hier Geborenen und Aufgewachsenen, von Anfang an im deutschen Schulsystem Gebildeten besuchen seltener ein Gymnasium, berichtet das Deutsche Jugendinstitut (DJI: Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten - AIDA-Studie, 2019). Während in den letzten Jahren immer mehr Menschen hohe und höhere Bildungsabschlüsse erreichen, ist der Bildungsaufstieg (definiert als: höhere Abschlüsse als jene der Eltern) bei Kindern von Zugewanderten geringer und ein Bildungsabstieg (weniger erreichen, als die Eltern es taten) sogar deutlich häufiger. Dabei streben alle Jugendlichen nach eigenen Aussagen gleich intensiv das Abitur an.
Das DJI vermutet, dass in Familien mit Migrationshintergrund die Eltern etwa wegen schlechterer Deutschkenntnisse ihre Schulkinder weniger unterstützen können, aber auch mit dem Schulsystem weniger vertraut sind. Das zeige sich verstärkt, wenn beide Eltern einen Migrationshintergrund hätten. Solchen Familien und deren Kindern sollte viel mehr Unterstützung zuteil werden, rät das DJI.
Was hat sich durch die Coronazeit geändert?
Dass sie sich einsam und allein fühlen: Das hat die Pandemie mit Kindern gemacht - und weit mehr mit den in armutsgefährdeten Haushalten lebenden. Fast jedes zweite Kind hatte mit Angst, Niedergeschlagenheit und Sorgen zu kämpfen. Zwei von fünf Kindern reagierten mit Hyperaktivität - umso mehr, je mehr ihre Eltern in eine wirtschaftliche Notlage kamen. Von diesen beiden fast gegensätzlichen Reaktionen berichtet das Deutsche Jugend-Institut (DJI) in der Studie "Kind sein in Zeiten von Corona", an der sich 12.628 Haushalte beteiligt haben. Auskunftspersonen waren meistens die Mütter. Ziel war es, die familiäre Situation unter Pandemiebedingungen und deren Auswirkungen auf Kindergarten- und Schulkinder sowie auf Jugendliche der Sekundarstufe 2 anzusehen.
Es geht um Geld und Lebenslagen
Unterrepräsentiert waren Familien, in denen der höchste Bildungsabschluss Realschule oder niedriger war. Aber hier reagierten die Kinder auffällig stärker als in den Haushalten, die eine Terrasse, einen Gartenzugang, für jedes Kind ein eigenes Zimmer und anderes mehr hatten. Gab es konfliktive Themen am Familientisch, verstärkten sich die Verhaltensauffälligkeiten noch. Das ist die psychosoziale Seite.
Hinzu kommt die Frage materieller Benachteiligung. Über die Schwierigkeiten schulischer Organisation auf digitaler Basis wurde viel berichtet: Corona war schneller und traf auf unvorbereitete Kollegien, untaugliche Lernplattformen, Funklöcher, Datenschutz-Hindernisse. So ging es allen Familien, aber in armutsgefährdeten haben die Kinder keine Geräte zur Verfügung gehabt, mussten mit dem alten Handy des großen Bruders experimentieren. Hatten zusammen nur ein Zimmer mit Geschwistern oder Eltern, in dem sie dem Digitalunterricht folgen sollten. Als sich dann die Bundesregierung im Winter 2020 zur Übernahme der Anschaffungskosten für Laptops und Tablets bereitfand, ging es nur wenige Monate, bis das Bundessozialgericht im Mai 2021 den Anspruch von Schülern und Familien mit Unterstützungsbedarf wieder verneinte: Jetzt sollen arme Eltern digitale Geräte selbst finanzieren.
Einsamkeit macht mutlos
Doch auch Arbeitsblätter-Päckchen erklären sich nicht immer von selbst. Es brauchte Motivation, Aufmunterung, Anfeuerung im Einzelfall, wenn nötig. Es hing und hängt weitgehend vom Engagement und Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer, dem Spirit der Schulen ab, ob die Schulkinder mit schlechteren Aussichten doch Chancen bekommen. Wenn die Lehrerin selbst angerufen hat und mit Lob motivierte, war das sehr wichtig. Oder wenn sie fragte, warum jemand verstummte und abtauchte: Es wahrzunehmen war schon die halbe Hilfe. Gut gegen das Einsamsein waren Geschwister, noch besser Kontakte zu Freunden.
Was es jetzt besonders braucht, sind gute Angebote zum Schließen von Lernlücken und gegen soziale Vereinsamung: Schulsozialarbeit und Schulen haben die große Aufgabe, gemeinsam wieder zu motivieren und zu normalisieren. Jetzt und künftig werden Schülerinnen und Schüler bessere Geräte, Lehrerinnen neue Digitalkompetenz, Städte bessere Netze und Schulen technischen Support, Software und Fachberatung brauchen: Das hat der Digitalisierungsschub durch den Lockdown deutlich gemacht.
Arme Familien haben Anspruch
Unabhängig davon brauchen aber armutsgefährdete Familien Sozialberatung, um ihre Ansprüche auf gerechte Ausstattung der Schulkinder geltend zu machen. Und breit verfügbare Sprachförderung schon ab dem Kindergartenalter muss dazu beitragen, die Chancen der Kinder mit Migrationshintergrund so früh wie möglich zu verbessern. Ersteres ist wie die Schulsozialarbeit auch Aufgabe der professionellen Caritas, beim zweiten sind zudem ehrenamtlich Engagierte herzlich willkommen und nötig.
Im Sinne des DJI ist auch darauf zu pochen: Schulen sind nicht nur Bildungsorte. Hier lernen Kinder das soziale Miteinander. Auch das entlastet Familien in schwierigen Zeiten - nicht nur arme.