"Wir wollen den Kindern Heimat geben"
Felina* war aus dem Fenster geklettert, um bei den Nachbarn nach Essen für sich und ihren kleinen Bruder David* zu fragen. Damals war sie vier Jahre alt und die Mutter, wie so oft, seit Tagen nicht zu Hause. Die pädagogische Leiterin des Kinderheims Stiftung Haus Pius XII, Waltraud Schmelzer, sitzt im kleinen Büro neben dem Haupthaus während sie die Geschichte von zwei ihrer Schützlingen erzählt. "Felina hatte bereits die Rolle der Ersatzmama eingenommen", erinnert sie sich. "Mit ihren vier Jahren hat sie Brei gekocht, und wenn der Kleine die Windeln voll hatte, hat sie sich darum gekümmert." Die Nachbarn hatten damals die Polizei gerufen. Kurz danach meldete sich das Jugendamt bei Waltraud Schmelzer, ob in ihrer Einrichtung noch zwei Plätze frei wären.
Bis zu 16 Kinder und Jugendliche finden im Zehlendorfer Kinderheim Stiftung Haus Pius XII Schutz und Geborgenheit. "Wir wollen den Kindern Heimat geben", beschreibt es Geschäftsführer Michael A. Lencz. Nationalität, Konfession oder eine mögliche Behinderung spielen keine Rolle. Seit Oktober 2017 gibt es einen zweiten Standort in Biesdorf mit acht Plätzen. "Der Bedarf ist groß", sagt er. "Deshalb sind wir sehr froh, dass wir dort eine geeignete Immobilie gefunden haben." Wie lange die Kinder im Heim bleiben, ist sehr unterschiedlich. "Ziel ist immer eine Rückführung in die Familie", sagt Michael A. Lencz. Manchmal ist das nach einigen Wochen, manchmal erst nach Jahren möglich. "Es gibt auch Fälle, in denen die Kinder nicht wieder zu ihren Eltern zurückkehren können." Krankheit, Behinderung oder Drogenkonsum spiele in diesem Zusammenhang häufig eine Rolle, erklärt der Geschäftsführer. "Wir erleben auch immer wieder, dass ein Elternteil einen neuen Partner gefunden und mit dem ein weiteres Kind bekommen hat. Dann stört das Große und wird lieber im Heim gelassen."
Als Felina und David das erste Mal vor Waltraud Schmelzer standen, ging es für die erfahrene Pädagogin erstmal um ganz grundlegende und praktische Dinge: "Brauchen sie zum Beispiel einen Nucki oder ein Kuscheltier zum Schlafen? Gerade wenn die Kinder so klein sind, kann es schwierig sein, das raus zu bekommen. Bei den Geschwistern konnte uns Felina gut helfen", erzählt Waltraud Schmelzer. Solche Gewohnheiten zu belassen, hilft den Pädagogen Vertrauen aufzubauen und gibt den Kindern einen minimalen Rahmen an Beständigkeit. Etwas, was in ihrem jungen Leben kaum existierte.
Hausregeln, gemeinsame Mahlzeiten und Aktivitäten, sowie verbindliche Gesprächsabende - im Haus St.Pius XII lernen die Kinder und Jugendlichen Gemeinschaft kennen. In der Familienwohngruppe werden sie rund um die Uhr betreut, sollen hier Sicherheit, Geborgenheit und einen Lebensmittelpunkt finden. Die Jüngste der hier lebenden Jungen und Mädchen ist derzeit drei Jahre alt. Sie ist gerade eben zurück aus der Kita: Erstmal kurz umgucken in dem Trubel und schauen, wer schon da ist. Es ist kurz vor 16 Uhr an diesem Nachmittag, da sind die Älteren bereits von der Schule zurück. Einige sitzen noch an ihren Hausaufgaben, ein paar stehen mit Erzieher Helmut Schmelzer in der Küche und erzählen vom Tag.
Mit ihrem Ehemann Helmut lebt Waltraud Schmelzer als "innewohnende Pädagogenfamilie" mit im Haus. "Wir haben auch unsere freien Zeiten", betont sie. "Aber um wirklich abschalten zu können, fahren wir häufig weg - vor allem an die Ostsee." Ein festes Team aus pädagogischen Fachkräften, Bundesfreiwilligendienstlern und Hauswirtschaftsmitarbeiterinnen betreut und versorgt zudem die Kinder. Die Bezugserzieher kümmern sich um Schulangelegenheiten, Behördengänge - und den Austausch mit den Eltern. Ein besonders sensibles Thema, wie Michael A. Lencz weiß: "Für die sind wir die Bösen. Unsere Herausforderung ist, sie zu überzeugen, dass sie es ihren Kindern erlauben, sich hier wohl fühlen zu dürfen und dass wir der Familie helfen wollen, wieder zusammenzufinden." Gerade junge Mütter würden junge Erzieherinnen häufig als Konkurrenz wahrnehmen, berichtet Waltraud Schmelzer. "Die Kinder befinden sich in einem unglaublichen Loyalitätskonflikt."Bis zu ihrem 18. Lebensjahr dürfen die Jugendlichen im Heim bleiben. Das ist geltendes Recht. "Ein echtes Problem", sagt Michael A. Lencz. Wenn man sich überlegt, wie lange junge Menschen in ‚normalen‘ Familienverhältnissen zu Hause wohnen bleiben, Unterstützung und Orientierung von den Eltern während der Ausbildungszeit bekommen würden, sei es absolut verantwortungslos, Heimkinder mit 18 Jahren sich selbst zu überlassen.
Neben der Familienwohngruppe haben Jugendliche ab 15 Jahren im Haus Pius XII die Möglichkeit, in einer Wohngemeinschaft ihre Selbständigkeit zu trainieren. Außerdem bietet die Einrichtung Plätze für betreutes Einzelwohnen an. "Natürlich dürfen sich unsere ehemaligen Bewohner auch nachdem sie ausgezogen sind jederzeit bei uns melden", betont Waltraud Schmelzer. Aber das sei nicht die Lösung des grundsätzlichen Problems im System.
Die Eröffnung des Hauses Pius XII im beschaulichen Zehlendorf geht auf Don Luigi Fraccari im Jahr 1949 zurück, der zu dieser Zeit Beauftragter für die Italiener-Seelsorge war. Seine Idee von einem Zufluchtsort für italienische Waisenkinder, Alte und Alleinstehende im Nachkriegs-Berlin zu gründen, konnte er durch finanzielle Unterstützung durch den damaligen Papst Pius XII realisieren. Noch heute würden manchmal ehemalige italienische Bewohner vorbeikommen. "Die stehen dann in unserem jetzigen Wohnzimmer und erinnern sich, dass dort früher der Schlafsaal mit zehn oder mehr Betten war", erzählt Waltraud Schmelzer.
Aus Felina und David sind mittlerweile selbstbewusste Teenager geworden. "Es gibt gute und schlechte Momente", sagt Felina. "Aber das hier ist meine Familie." Stolz zeigt sie ihr Zimmer im Erdgeschoss: Heller Teppich, ein violett-gemustertes Tuch an der Wand, Kerzen und eine Lichterkette als Deko. In dieser Mädchen-Oase "chille" sie gern, ziehe sich hier zurück, wenn ihr im Rest des Hauses zu viel los sei. "Im Sommer gehe ich mit meinen Freundinnen gern in den Park", erzählt sie, "und mittwochabends probe ich mit dem Schulchor."
*Name geändert