Hilfe in Pantoffelnähe
Die Regel ist einfach: Wenn im Büro an der Isergebirgsstraße Licht brennt, darf man hereinkommen - egal mit welcher Frage. Und die Leute kommen - manchmal mit einem Schuhkarton voll unsortierter Papiere, manchmal auf ein freundliches Wort oder wie die Rollstuhlfahrerin, die mal klipp und klar zu Protokoll geben möchte, dass der Bordstein zu hoch ist. Es hat sich herumgesprochen, dass man hier Antworten auf Fragen bekommt. Das freut Sozialarbeiterin Tanja Reckers. Es zeigt ihr, dass sie erfolgreich arbeitet. Seit zweieinhalb Jahren gibt es das Quartiersbüro Moers-Rheinkamp.
Quartiersentwicklung ist eine sperrige Umschreibung von Reckers’ Aufgabe. Sie spricht mit den Menschen auf der Straße, mit dem Vorstand des Energieversorgers, mit den Vereinen. Sie hört, was die Menschen brauchen, und bringt sie mit denen zusammen, die helfen können. Sie ist Beraterin, Kontaktpflegerin, Organisatorin und Übersetzerin.
Es geht darum, dem Stadtteil neues Leben einzuhauchen, ihm seine Seele zurückzugeben. Die Rheinkamper Urgesteine Erich Kallmann (76) und Wolfgang Wörner (66) können sich gut an früher erinnern. "Ich wohne auf der Seilscheibe", sagt Kallmann. Es bedeutet, dass man von seinem Haus aus den Förderturm sehen konnte. Früher. Früher kannte man sich unter Bergleuten, unter Kumpels. Die Zeche ist dicht, die alten Bergleute sterben, junge Familien haben die günstigen Wohnungen übernommen, aber man ist sich fremd. Den Bäcker im Ort gibt es nicht mehr. Smartphones und Computer helfen nicht gegen die Vereinzelung. Es braucht Menschen vor Ort, ganz analog.
Es sind die kleinen Dinge, die ein funktionierendes Quartier ausmachen. Tanja Reckers sucht und fügt sie für Moers-Rheinkamp und Kamp-Lintfort zusammen, ihre Kollegin Ricarda Ophoven für die Moerser Stadtteile Eick-Ost und Scherpenberg.
"Copy and paste" für Senioren
Beispiel Taschengeldbörse: Fabian Wowrzyk (15) hilft jeden zweiten Dienstag einer älteren Dame am Computer. "Wir schreiben Briefe mit Word. Gerade haben wir Kopieren und Einfügen geübt", erzählt der Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule. Einer anderen Seniorin hilft Fabian mit der Handhabung des Smartphones. Sechs und zehn Euro bekommt der 15-Jährige pro Stunde. So wie er helfen mehrere Jugendliche älteren Bürgern im Stadtteil. Sie erledigen Einkäufe, führen den Hund aus oder mähen Rasen. Organisiert wird das über die Taschengeldbörse: Gesamtschüler zwischen 14 und 20 Jahren melden sich bei Schulsozialarbeiter Heiko Gersdorf. Er füllt mit ihnen ein Formular aus, auf dem vermerkt wird, welche Arbeiten ein Schüler anbietet. Mit den Angaben kontaktiert Gersdorf das Quartiersbüro. Dort gleicht Reckers die Angebote mit den Nachfragen von Senioren ab. "Es muss ein Hilfebedarf vorliegen, etwa eine Gehbehinderung. Zeitmangel allein reicht nicht", erklärt die Sozialarbeiterin. Die Jugendlichen bessern so ihr Taschengeld auf, die Senioren erhalten unkompliziert Hilfe. Die Senioren lernen, ihre Vorbehalte gegen die Jugend von heute abzubauen, die Jugendlichen lernen fürs Leben. "Etwa soziale Kompetenzen für die Arbeitswelt, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Zuverlässigkeit", ergänzt Gersdorf. Auch Fabian ist jetzt klüger: "Ich muss langsamer reden."
Beispiel Seniorenfrühstück: Einmal im Monat können sich die Seniorinnen und Senioren in Eick-Ost an den gedeckten Tisch setzen. "Zum Pauschalpreis von vier Euro gibt es am dritten Freitag im Monat eine schön gedeckte Tafel mit Lachs, Rührei, guter Wurst. Und wer will, kann hinterher noch ein Brötchen und einen Joghurt mit nach Hause nehmen", erzählt Sozialarbeiterin Ricarda Ophoven.
Glück und Solidarität im Stadtteil
Beispiel Rollatoren-Check: Gehhilfen sind in der Dunkelheit schlecht zu sehen. Beim Aktionstag werden Rollatoren auf ihre Verkehrssicherheit geprüft, kostenfrei Reflektoren und Lampen verteilt.
Beispiel Versicherungsberatung: Erich Kallmann und Wolfgang Wörner bieten gleich in mehreren Quartiersbüros des Caritasverbandes Sprechstunden zu Rentenfragen. Die beiden Knappschaftsältesten helfen den Bürgern ehrenamtlich bei Rentenanträgen, sortieren - wenn es sein muss - auch einen Schuhkarton voller Unterlagen.
Gut zehn Termine in der Woche haben Kallmann und Wörner, wenn es hoch hergeht. Sie machen Hausbesuche oder vereinbaren Termine im Quartiersbüro. "Wer zu den beiden geht, bekommt das Rundum-sorglos-Paket bis zur Rente", sagt Reckers lachend.
Erfolg lässt sich in der Quartiersentwicklung nicht in Euro beziffern. Er bemisst sich in Glück, Zufriedenheit und Solidarität der Bürger eines Stadtteils, in gefühlter Temperatur und in funktionierenden Hilfsstrukturen oder, wie Reckers es ausdrückt, in der "Hilfe in Pantoffelnähe".
Selbstständig wohnen für Senioren
Seniorengerecht ist die Quartiersentwicklung - und menschenfreundlich, denn sie verbindet Bürger aller Altersstufen. "Wir profitieren alle davon", sagt Ophoven. Vier Quartiersbüros hat der Caritasverband Moers-Xanten installiert. Sie werden aus unterschiedlichen Finanztöpfen gespeist; die Förderung ist auf drei bis fünf Jahre befristet. Das Quartiersbüro Rheinkamp ist Modellprojekt des Kreises Wesel. Die Förderung hatte das seinerzeit noch bestehende, aber nach der Landtagswahl 2017 aufgelöste NRW-Gesundheitsministerium übernommen.
Hinter der Förderung steht eine gesellschaftliche Sorge und volkswirtschaftliche Notwendigkeit: Die Familien und Nachbarschaften, in denen Kinder und ältere Menschen früher gut aufgehoben waren, sind zerbrochen, und zugleich werden die Menschen immer älter. Die Senioren wollen und sollen aber möglichst lange ein selbstständiges Leben führen. Nicht umsonst werden die Quartiersbüros deshalb in Stadtteilen mit überdurchschnittlich hohem Seniorenanteil angesiedelt. In Moers-Eick beispielsweise liegt er bei etwa 27 Prozent.
In Rheinkamp läuft die Förderung im Sommer aus. Zur großen Freude aller Beteiligten ist aber eine Verstetigung gelungen: "Das Quartiersbüro und die ebenfalls schon bestehende AWO-Begegnungsstätte bilden ein gemeinsames neues Zentrum, das dann von der Stadt weitergefördert wird", sagt Reckers. Es braucht genau diese langfristige Förderung, um den Stadtteil zu entwickeln. Von allein entwickelt sich kein Quartier, und drei bis fünf Jahre reichen auch nicht aus, um die Ressourcen im Stadtteil zu verknüpfen. "Es braucht einen, der den Hut aufhat", sagt Reckers. Schließlich soll ein Netz der Hilfsbereitschaft entstehen, das trägt - auch wenn im Quartiersbüro das Licht aus ist.