Integration in zwei Geschwindigkeiten
Immer wieder schaut Nataliia Kovalchuk (Nachname durch Redaktion geändert) nervös auf ihr Handy. Dann vibriert das Gerät. Auf dem Display erscheint das Gesicht eines jungen Mannes. Er trägt ein beigefarbenes Camouflage-Shirt. Nataliia steht auf und verschwindet im Nebenzimmer. Nach wenigen Minuten ist sie zurück. "Es war Vitali, alles gut", sagt sie. Aus ihrer Stimme klingt Erleichterung. "Zum Glück", ruft Ingo Alvarez Gonzalez. Die beiden sitzen in der Küche in Nataliias Wohnung unweit des Kölner Hauptbahnhofs. Der gebürtige Münsterländer lebt seit 30 Jahren am Rhein - die Ukrainerin Nataliia und ihr achtjähriger Sohn Mattvii seit März 2022.
Nataliia kommt aus einer kleinen Stadt im Osten der Ukraine nahe Charkiw. Nach dem Überfall der russischen Armee flieht die 33-Jährige zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Schwester - Ehemann Vitali bleibt zurück und kämpft gegen Putins Invasoren. Über Lwiw und Berlin geht es mit dem Zug nach Köln. Dort hofft Nataliia bei einer Bekannten unterzukommen. Doch nach ihrer Ankunft in der Domstadt ist diese nicht erreichbar. "Wir standen vier Stunden verloren am Bahnhof herum", sagt Nataliia, "dann kam ein Helfer von der Caritas und fragte, ob wir eine Wohnung brauchen."
Nachbar Ingo packt gleich mit an
Seit dieser Nacht wohnen die Kovalchuks gemeinsam mit sechs weiteren ukrainischen Flüchtlingsfamilien in einer frisch renovierten Unterkunft des Sozialdienstes Katholischer Männer Köln (SKM) im Bahnhofsviertel, in der eigentlich wohnungslose Männer beherbergt werden sollten. In der Nachbarschaft bleibt das nicht unbemerkt. "Mein Mann und ich wohnen im Nebenhaus - als wir die Frauen und Kinder sahen, war klar für uns: Wir müssen helfen!", sagt Ingo, der von den ukrainischen Nachbarn inzwischen nur noch "Ingo the angel" genannt wird. Der 54-jährige Journalist im Vorruhestand begleitet die neuen Nachbarn zu Ämtern und Jobcenter, besorgt in Eigenregie Fernsehgeräte, kümmert sich um WLAN im Haus und vermittelt Nataliia und ihrer Schwester einen eigenen Kühlschrank. "Ingo ist wirklich ein Engel - er ist immer da für uns", sagt Nataliia und klopft dem stämmigen Mann mit Vollbart auf die Schulter.
Wohnung und Privatsphäre:
Vier Stunden versus sechs Monate
"Ich bin nicht neidisch auf die ukrainischen Flüchtlinge", sagt Ahmed Al Jabali. Der 37-Jährige weiß, wie sich Krieg anfühlt, wie es ist, alles hinter sich zu lassen, vor Putins Bomben zu fliehen. "Ich hätte mir nur gewünscht, nicht ausgebremst zu werden." Bis der Mann aus Aleppo (Syrien) eine eigene Wohnung für sich, seine Frau und die beiden Kinder finden konnte, vergingen sechs Monate. Zwei Jahre waren es bis zur finalen Bearbeitung des Asylantrags, ebenso lange bis zur teilweisen Anerkennung der Berufsqualifizierung. Aus dem syrischen Abitur wurde ein Hauptschulabschluss, aus dem BWLer mit Uni-Abschluss ein Kaufmann für Büromanagement.
"Immer wieder warten, ohne dabei etwas tun zu können, das ist das Schlimmste", sagt Ahmed. Er sitzt gemeinsam mit Sharif Abu-Jabir vor der Zentrale des SKM unweit des Kölner Neumarkts. Hier arbeitet Ahmed seit einem halben Jahr als Sachbearbeiter. Als er 2016 in die Domstadt kommt, lernen sich die beiden Männer über das Integrationsprojekt "Menschen stärken Menschen" kennen. Seither hilft ihm der 84-jährige Sharif, der selbst vor 63 Jahren aus Palästina nach Deutschland kam, wo er kann.
"Es ist eine Schande, wie unterschiedlich in Deutschland mit Geflüchteten umgegangen wird", sagt Sharif. "Wir sind doch alle gleich. Die Herkunft darf nicht darüber entscheiden, wer hier Arbeit findet", kritisiert er. Gebildete Menschen, die auf eigenen Beinen stehen wollen, dürfe der Staat nicht im Stich lassen, fordert Sharif, der sich seit Jahren in verschiedenen Willkommensinitiativen engagiert.
Auch Heike Sperber, die beim SKM Köln die Fachstelle Ehrenamt und Freiwilligendienste leitet, kann nicht verstehen, warum Schutzsuchende so unterschiedlich behandelt werden. Die aktuelle Situation sei absurd, so Sperber. Während sich Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gleich auf einen Job bewerben können, müssen Menschen wie Ahmed warten. "Gerecht wäre es, diejenigen zu fördern, die bleiben dürfen und etwas tun wollen - unabhängig davon, woher sie kommen", so Sperber.
Nataliia und Ingo können die Enttäuschung anderer Flüchtlinge und der Menschen, die sich für sie einsetzen, verstehen. "Menschen aus Aleppo sind vor genau denselben russischen Bomben geflohen, vor denen wir jetzt auch fliehen mussten", weiß Nataliia. Am liebsten würde sie sofort wieder zurückkehren in ihre Heimat. "Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, ich würde in einem fremden Land leben, eine neue Sprache lernen und dabei vielleicht noch Witwe werden, ich hätte es nicht geglaubt", sagt die zierliche Frau - und kämpft mit den Tränen.
Die gleichen russischen Bomben - in Syrien und in der Ukraine
Ingo, der sich schon 2016 als Integrationslotse engagierte, weiß, welche Wirkung Bilder und Medien haben: "Köln ist weltoffen, aber es ist schon ein Unterschied, ob da junge Männer aus dem Nahen Osten kommen oder Frauen mit ihren Kindern." Außerdem seien die kulturellen Unterschiede nicht so groß. Das mache vieles einfacher. "Die Ukrainerinnen kommen insgesamt schneller hier zurecht", merkt Ingo an, der sich gewünscht hätte, dass vom Kurswechsel der Regierung in Sachen Integrationstempo auch die anderen Flüchtlinge profitieren.
Die Hilfsbereitschaft der Menschen sei oft von der Herkunft der Schutzsuchenden abhängig, so Ingo. Auf der Suche nach Haushalts- und Fernsehgeräten habe er nicht selten zu hören bekommen, dass diese ausschließlich für die Flüchtlinge aus der Ukraine gespendet werden, nicht für die "anderen" Flüchtlinge. "Man merkt, dass viele ein Bild im Kopf haben von den schlechten und den guten Flüchtlingen", sagt Ingo.
Angst vor der kippenden Stimmung
Wie es sich anfühlt, wenn Willkommenskultur durch Angst und Hass ersetzt wird, erfuhr Ahmed Al Jabali am eigenen Leib. Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015, in der es zu massenhaften Übergriffen von jungen Männern kam und die entsprechende Berichterstattung haben dazu geführt, dass auch Syrer als Bedrohung wahrgenommen wurden - auch für das deutsche Sozialsystem. "Viele haben Angst davor, das Hilfsbereitschaft ausgenutzt wird", weiß Ahmed.
Sein Integrationspate Sharif hat ebenfalls Angst; Angst, dass auch die Stimmung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine kippen könnte: "Wenn die Taschen leer sind, werden die Leute sich zweimal überlegen, ob sie helfen wollen." Man könne nur hoffen, dass es im Zuge der von Inflation und Energiekrise nicht zu einem Rechtsruck in der Gesellschafft komme. Das Gegenmittel - und da sind sich Sharif und Ahmed sicher - lautet: Begegnung. "Wenn wir uns kennenlernen, empfinden wir das Neue als Bereicherung und nicht als Bedrohung", weiß Sharif.
Blick in eine ungewisse Zukunft
Ortswechsel: In Nataliias Wohnung klingelt es an der Türe. Es ist Elfriede, eine weitere Nachbarin. Die ältere Dame war einkaufen. Sie hat Schokolade für Mattvii und die Kinder im Haus mitgebracht. "Komm rein", ruft Ingo aus der Küche. Elfriede setzt sich zu Nataliia und ihrem Integrationspaten an den Tisch. Mattvii kommt vorbeigeflitzt, holt sich ein Stück Schokolade. Als er sich mit seiner Beute verschmitzt davonstiehlt, müssen alle lachen. Für einen Moment sind die Sorgen und Ängste vergessen.