„Ein Normal wird es nicht mehr geben“
Gemächlich fließt die Vesdre (Weser) durch den kleinen wallonischen Kurort Chaudfontaine. Der kleine Fluss wirkt völlig harmlos, man könnte problemlos durchwaten. Im Sommer 2021 war der Maas-Zufluss dagegen nicht wiederzuerkennen: Er überflutete das ganze Tal und machte Bernadette Leemans zu einem Klimaflüchtling - mitten in Europa.
"Es hatte tagelang stark geregnet", erzählt die 47-Jährige. Zusammen mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn beobachtete sie, wie das Wasser immer weiter stieg und schließlich in ihre Wohnung eindrang. Zunächst räumte sie alle wichtigen Sachen in den ersten, später am Abend sogar in den zweiten Stock. "Überall war Wasser, das kann man sich gar nicht vorstellen. Autos und Bäume wurden mitgerissen, der Pegel erreichte am höchsten Punkt sechs Meter über Normal", erzählt die Belgierin. In ihrem Wohnzimmer im Erdgeschoss stand das Wasser bis zehn Zentimeter unter der Decke.
Obwohl sie viel verloren hat und wegziehen musste, sagt Leemans heute: "Ich hatte Glück." Was absurd klingt, meint sie ernst. Denn sie hat die Katastrophe - im Gegensatz zu vielen anderen im Vesdretal - überlebt. Außerdem denkt sie an die Tausende Klimaflüchtlinge, die vor Dürre, Fluten und Hunger flüchten. "Das ist mit meiner Situation nicht vergleichbar. Diese Menschen in Not riskieren bei der Fahrt übers Mittelmeer ihr Leben, und wir wissen, dass es viele nicht schaffen."
Das Zuhause von Fluten vernichtet
Dass sich die zweifache Mutter als Klimaflüchtling bezeichnet, klingt ungewöhnlich. Aber im Grunde hat sie recht: Alle, die im Sommer 2021 aufgrund der Überschwemmungen ihrer Heimat beraubt wurden - ob in Belgien, Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen - sind genaugenommen Klimaflüchtlinge. "Viele stutzen, wenn sie hören, dass ich mich als Klimaflüchtling fühle", erzählt Bernadette Leemans. Genau das ist ihre Absicht: Sie will überraschen, die Menschen zum Nach- und schließlich zum Umdenken bringen.
Seit fast 20 Jahren setzt sich die Belgierin für Nachhaltigkeit ein. Zusammen mit Gleichgesinnten hatte sie damals die gemeinnützige Initiative "Les Fougères" (Die Farne) gegründet, die Menschen anregen will, ihre Träume umzusetzen. Außerdem will sie ihnen nahebringen, wie wertvoll Ökosysteme sind, vor allem, wie abhängig wir von diesen sind. "Der Mensch muss begreifen, dass er Teil der Natur ist und nicht über ihr steht", sagt die Ökoberaterin, "deshalb müssen wir lernen, mit der Natur zu leben, nicht gegen sie." Angesichts der Erderhitzung, die nachweislich auch Extremwetterereignisse verstärkt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine solche Katastrophe wiederholt. Den Menschen in engen Tälern wie dem Vesdre- oder dem Ahrtal stehen unsichere Zeiten bevor. Deshalb kann Bernadette Leemans verstehen, dass viele ihrer ehemaligen Nachbarinnen und Nachbarn Angst haben. "Aber Angst hilft uns nicht", sagt die 47-Jährige, "wir müssen etwas tun, und zwar schnell."
Solidarität: Flamen helfen Wallonen
Nur wenige Kilometer von Chaudfontaine entfernt fließt die Maas durch Lüttich, das vor anderthalb Jahren nur knapp einer Überflutung entgangen ist. Aus dem siebten Stock eines Wohnhauses blickt Leemans hinunter auf den Fluss. Wieder hat sie es gewagt, direkt an einem Ufer zu leben, diesmal aber mit gebührendem Höhenabstand. Im Wohnzimmer und in der Tiefgarage zeugen noch unausgepackte Kartons vom unfreiwilligen Umzug. "Das sind die sichtbaren Spuren", sagt die Überlebende, "die seelischen bleiben meist unsichtbar."
In ihrem Wohnzimmer zeigt die 47-Jährige auf den Tisch, das Sofa, den Schreibtisch und ein Regal - Möbel, die sie aus den Fluten retten konnte. "Das Sofa hat noch monatelang gestunken", erzählt sie. Ihre Gedanken wandern zurück zu jenen Wochen, die ihr Leben deutlich verändert haben: "Die Hilfe war umwerfend: Soldaten haben uns mit Essen versorgt, wildfremde Menschen waren plötzlich da und haben mitangepackt - erstaunlicherweise kamen viele aus dem flämischen Teil Belgiens zu uns nach Wallonien. Da sieht man mal wieder, dass es die von nationalistischen Kräften geschürten Feindseligkeiten bei den Menschen gar nicht gibt."
Genau an diesem Hebel setzt Leemans jetzt an: Um die ökosoziale Transformation der Gesellschaft zu schaffen, will sie in Zusammenarbeit mit umliegenden Gemeinden eine Bürgerbeteiligung institutionell verankern. Sie ist überzeugt, dass Veränderungen von unten angestoßen und durchgesetzt werden müssen - um die Folgen kommender Extremwetterereignisse abzuschwächen und besser vorbereitet zu sein.
Ob sie optimistisch in die Zukunft blickt? Bernadette Leemans rückt sich die Brille zurecht und nimmt sich einen Moment zum Überlegen. "Weder optimistisch noch pessimistisch, sondern realistisch", sagt sie dann und ergänzt: "Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, deshalb müssen wir jetzt erkennen, was wir tun können und müssen." Immer wieder tippt sie auf ihrem Laptop französische Begriffe in das Übersetzungsprogramm ein. Fast genauso oft geht sie zu ihrem "geretteten" Regal und holt ein Fachbuch nach dem anderen heraus. In einem schlägt sie eine Grafik auf, in der es um unsere Lebensgrundlagen geht: "Die Meere sind versauert und übernutzt, die Böden ausgelaugt, die Arten sterben", sagt die Wahl-Lütticherin, "sechs von neun planetaren Grenzen haben wir schon überschritten."
Zukunft braucht Gemeinsinn
Um der Menschheit ein Überleben in dieser krisengeschüttelten Welt zu sichern, ist es aus ihrer Sicht nicht allein mit Klimaschutz getan. Für Bernadette Leemans geht es darum, eine grundsätzlich andere Welt zu bauen, jenseits von Konsum und Egoismus. Eine Welt, in der die Menschen nachhaltig und in Demut leben. "Die Werbung will uns glauben machen, dass Konsum uns glücklich macht, aber das stimmt nicht", sagt die Leemans. Sie und viele andere Menschen in der Region haben in diesen schlimmen Tagen erlebt, was wirklich zählt: Hilfe, Solidarität und Zusammenhalt. In Zukunft mehr denn je, denn: "Wir müssen unseren Blick auf die Welt ändern, das alte Normal wird es nicht mehr geben."